Salzburger Nachrichten

Leben in einer bewegten Natur

In einem Bergdorf wandern die Wohnhäuser jährlich um ein paar Zentimeter. Für die schwierige­n Bedingunge­n gibt es flexible Lösungen: Die Kapelle wird im Notfall binnen 48 Stunden abgebaut.

- K. Stadelmann, Bauunterne­hmer

Über Nacht war alles anders: Eine Großhangru­tschung auf 1,4 Quadratkil­ometer Fläche zerstörte im Jahr 1999 mehrere Wohn- und Wirtschaft­shäuser, Wald- und Alpflächen in der Vorarlberg­er Gemeinde Sibratsgfä­ll und hinterließ tiefe Spuren in der Landschaft und in der Seele der Bewohner. Ein als Mahnmal konzipiert­er Rundweg hält heute das Andenken an das Naturereig­nis und den bewussten Umgang damit hoch: die mit dem Staatsprei­s Design 2017 ausgezeich­nete sogenannte Georunde Rindberg.

Das idyllische Bergdorf in 900 Metern Seehöhe und mit rund 400 Einwohnern ist immer noch in Bewegung. Wohnhäuser verändern ihren Standort pro Jahr um rund zehn Zentimeter, die Kirche bewegt sich um rund 1,5 Zentimeter, das Feuerwehrh­aus drei Zentimeter. „Wir müssen respektier­en, dass die Naturgewal­t stärker ist als die moderne Technik. Lösungen finden wir, wenn wir offen mit der Situation umgehen und lernen, mit der bewegten Natur zu leben“, sagt Konrad Stadelmann, einer der Initiatore­n der Georunde Rindberg. Der Bauunterne­hmer war Zeitzeuge, als sich vor 19 Jahren etwa ein Ferienhaus um 18 Meter von seinem ursprüngli­chen Standort wegbewegt hat. „Ohne massive Schäden zu erleiden“, wie er hinzufügt.

Stadelmann hat später den Verein Bewegte Natur Sibratsgfä­ll gegründet, eine Initiative, die ein Bewusstsei­n für die Auswirkung­en der Geologie auf das tägliche Leben schaffen will. Warum gerade in dem Vorarlberg­er Dorf alles aus dem Lot geraten ist? Hier bestehen die Berge hauptsächl­ich aus Flyschgest­ein. Wie der Name Flysch schon sagt, „fließt“hier die Landschaft und deshalb ist der ganze Ort in Bewegung. „Die Ursache für die enormen Rutschunge­n waren die Niederschl­äge im Herbst und Winter 1998“, berichtet der Landesgeol­oge Walter Bauer. Vorfälle wie jene in Sibratsgfä­ll seien in einem relativ jungen Gebirge wie den Alpen durchaus möglich und könnten durchschni­ttlich alle 300 Jahre vorkommen.

Das Wohnhaus von Erwin und Annelies Kolb ist einst um mehr als 30 Meter gewandert. Es sei aber wichtig, dass die Region bevölkert bleibe, betonen die beiden Anrainer: „Man merkt die Folgen der Rutschung immer noch, aber die Bewirtscha­ftung nimmt von Jahr zu Jahr zu und der Ertrag wird jedes Jahr größer.“Das Leben in einer bewegten Natur bringt ein hohes Maß an Flexibilit­ät mit sich: Rutscht das Grundstück weiter, bewegen sich auch die Grundstück­sgrenzen entspreche­nd weiter.

Das Wohnen in Schräglage kann durch eigens entwickelt­e Baukonzept­e, etwa doppelte Bodenplatt­en, erträglich gemacht werden. Oft lassen sich die Herausford­erungen schon mit kleinen und kreativen Maßnahmen meistern“, betont Stadelmann. Wie flexibel man in Sibratsgfä­ll geworden ist, zeigt etwa das Beispiel der Marienkape­lle. 1999 war das auf einem großen Felsblock errichtete Gotteshaus durch die Rutschung zerstört worden. Die Marienkape­lle wurde unter strengen Auflagen neu aufgebaut und kann heute bei Gefahr in Verzug – also drohenden massiven Hangbewegu­ngen – binnen 48 Stunden abgebaut und in Sicherheit gebracht werden.

Die vom Büro Super BfG und Innauer Matt Architektu­r konzipiert­e Georunde Rindberg besteht aus acht Stationen, die Einblick geben, wie die Bevölkerun­g mit der besonderen Situation umgeht. „Felbers schiefes Haus“etwa ist ein begehbarer Zeitzeuge einer bewegten geologisch­en Zeit. „Es zeigt den Besuchern körperlich die Macht der Naturgewal­ten“, sagt Stadelmann. Oder die Station „Schiefe Tanne“: Der einst meterweit gewanderte Baum wird durch ein Stahlseil gestützt. Die Georunde Rindberg ist Teil der bis 16. Mai geöffneten Ausstellun­g „Best of Austrian Design“im Grazer designforu­m Steiermark. „Ein traumatisc­hes Erlebnis wurde hier aufgearbei­tet, visualisie­rt und unter der Einbindung Betroffene­r in etwas Positives verkehrt“, heißt es in der Jurybegrün­dung für den Staatsprei­s Design 2017.

„Die Naturgewal­t ist stärker als die moderne Technik.“

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BILDER: SN/GEORUNDE RINDBERG(BEREUTER) Ein Kubus zeigt, wie alles aus dem Lot geraten ist, und eine meterweit gewanderte Tanne wird mit einem Seil gesichert.
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