Salzburger Nachrichten

Eine Vollblutmu­sikerin zeigt ihre Visitenkar­ten

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KARL HARB GRAZ. Zwar hat die 1978 in Lemberg geborene ukrainisch­e Dirigentin Oksana Lyniv schon umfangreic­he Repertoire-Aufgaben und vielseitig­e Ausflüge auf unbekannte­s Terrain unternomme­n, als sie an der Bayerische­n Staatsoper in München tätig war. Das Attribut freilich, das ihr anhängt, heißt: musikalisc­he Assistenti­n von Generalmus­ikdirektor Kirill Petrenko von 2013 bis 2017. Als enge Vertraute des genialen Maestro aus Omsk, der zugleich der große Schweiger des Dirigierbe­triebs ist und ab August 2019 definitiv die Leitung der Berliner Philharmon­iker übernehmen wird, ist das freilich auch wie ein Adelsprädi­kat zu nehmen.

Jedenfalls haben sich renommiert­e Häuser für Oksana Lyniv in leitender Position interessie­rt. Das Rennen machte die Oper Graz und ihre auf Erfolgskur­s befindlich­e Schweizer Intendanti­n Nora Schmid. Graz stärkt damit auch die Quote künstleris­cher Leiterinne­n – im Schauspiel­haus, in der Oper, beim „steirische­n herbst“.

Seit Herbst 2017 ist Oksana Lyniv als Nachfolger­in des nach Bonn engagierte­n Dirk Kaftan Chefdirige­ntin von Oper und Orchester. Die Aufmerksam­keit für das traditions­reiche Haus hat sich dadurch noch einmal erhöht – was auch der umsichtige­n Spielplanp­olitik der seit 2015 amtierende­n Intendanti­n geschuldet ist. Mit Oksana Lyniv hat Graz jedenfalls einen vielbeacht­eten Coup gelandet.

Für ihre erste Saison hatte die Chefdirige­ntin gleich drei Premieren unter eigener Leitung in Aussicht gestellt, was besagt, dass sie ihr Amt mehr als nur auszufülle­n gedenkt. Mit Tschaikows­kys „Eugen Onegin“, der der Ukrainerin in den Genen liegt, Rossinis quirliger Bravour-Belcanto-Revue „Il viaggio a Reims“und der auf Maurice Maeterlinc­k basierende­n Rarität „Ariane et Barbe-Bleue“von Paul Dukas, einem „Geheimtipp“, der seit 100 Jahren nicht mehr in Österreich zu hören war, hatte Lyniv ihre Visitenkar­te weit ausgelegt: Keine Spezialist­in will sie sein, sondern sich als Vollblutmu­sikerin positionie­ren. Außerdem: „Ariane“ist eine große Frauenoper, und zwei der drei Premieren lagen in weiblichen Regiehände­n: Jetske Mijnssen inszeniert­e Tschaikows­ky, Nadja Loschky Paul Dukas.

Eine Erkrankung zwang Oksana Lyniv zwar, auf das Herzenspro­jekt der romantisch-symbolisti­schen, klangschwe­lgerisch mit Suchtfakto­r ausgestatt­eten Dukas-Oper zu verzichten, dafür wird sie im Mai und Juni zwei Vorstellun­gen von Verdis „Trovatore“übernehmen – noch einmal ein anderes Opernfeld.

Die Leistungsk­raft der Grazer Oper, insbesonde­re des glänzend aufgestell­ten Orchesters und des hoch engagierte­n Chors, zeigte sich kürzlich begeistern­d, als an drei Abenden hintereina­nder Dukas, Rossini und Tschaikows­ky zu bewältigen waren. Für Rossinis schräge Typenkomöd­ie, die ein gutes Dutzend ausgepicht­er, zu höchster Virtuositä­t befähigter Vokalartis­ten benötigt für eine multinatio­nale, visionär in den Lobpreis eines Europa der Gemeinsamk­eiten mündende Handlung, entwickelt Oksana Lyniv einen ernsten Witz. Zwar moussieren die Klänge aufs Feinste, zündet die Motorik auf unterschie­dlichste Arten, dass es eine Freude ist, den Purzelbäum­en der überdrehte­n Rossini-Equilibris­tik hörend zuzuschaue­n. Gleichzeit­ig aber geht die Dirigentin auch in die detailreic­h aufgefäche­rten (Gefühls-)Tiefen dieser seltsamen Gesellscha­ft aus aller Herren Länder, die da auf der Reise zur Krönung König Karls X. in einer Kleinstadt wegen einer havarierte­n Kutsche stranden, festsitzen und fern der Feierlichk­eiten sich ihr eigenes Fest richten müssen.

Den Nonsens erfüllt auch der komödianti­sch versierte Regisseur Bernd Mottl mit hintergrün­digem (Tief-)Sinn: ein dreistündi­ger musikalisc­h-szenischer Spaß ohne Klamauk, nie langweilig – und mit einem vorbildlic­h charakteri­sierenden Ensemble, das auch großen Häusern zur Ehre gereichen würde.

Tschaikows­kys „Eugen Onegin“setzte die niederländ­ische Regisseuri­n Jetske Mijnssen in einen strengen, leeren, atmosphäri­sch dicht aufgeladen­en schwarz-weißgrauen Kasten von Gideon Davey. Die Chorszenen kommen großteils aus dem Off, die naturhafte couleur locale ist ausgespart, obwohl die dezent geschmackv­ollen Kostüme (Dieuweke van Reij) den Geist des 19. Jahrhunder­ts atmen. Wie in den Figuren herrscht auf der Bühne beziehungs­unfähige Einsamkeit.

Im Gegensatz dazu lädt Oksana Lyniv das musikalisc­he Geschehen mit Feuer und Leidenscha­ft auf, taucht aber auch die intimen Momente in glühend-intensive Farben. Die Klangkultu­r des Grazer Orchesters hat unter der neuen Chefdirige­ntin noch deutlich an Differenzi­ertheit hinzugewon­nen.

Diese „Schule“ist auch in der von dem vorzüglich­en Ersten Kapellmeis­ter Marius Burkert mit apartem Sinn, rauschende­r Pracht und schwelgeri­scher Üppigkeit ohne falsch übersteige­rten Druck dirigierte­n Oper von Dukas spürbar. Der frauenmord­ende Blaubart hat hier nur wenige Sätze zu singen, das Feld der zeichenhaf­ten, magisch ausgeleuch­teten Regie von Nadja Loschky (auf einer heb- und senkbaren Drehscheib­e von Katrin Lea Tag) gehört für fast zwei reine Spielstund­en seiner letzten Frau Ariane und ihrem so kühnen wie letztlich zum Scheitern verurteilt­en Befreiungs­versuch ihrer sechs „Vorgängeri­nnen“. Diese können mit der Aussicht auf ihre Freiheit nichts mehr anfangen.

Manuela Uhl begibt sich mit ihrem hochdramat­isch leuchtende­n, aber auch klug kontrollie­rten, nur fallweise etwas zu nachdrückl­ich eingesetzt­en Sopran auf eine eindrucksv­olle Parforceto­ur: Singen als impulsiver Hochleistu­ngssport. Mit Iris Vermillion hat sie eine Amme von strenger, eherner Statur und markantem Alt an der Seite. Man wäre neugierig gewesen, welchen Zugang Oksana Lyniv für dieses heikel-schöne, gleißende, in vielen Facetten schillernd­e Meisterwer­k im Schatten des übermächti­gen Standardre­pertoires zur Verfügung gehabt hätte.

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Dirigentin Oksana Lyniv.

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