Salzburger Nachrichten

„Schule ist kein heiliger Ort“

Das Klassenzim­mer scheint immer öfter zum Tatort zu werden. Warum Zahlen und Fakten zu Gewalt an Österreich­s Schulen dennoch schwer zu bekommen sind.

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WIEN. Mobbing in der Klasse oder in Sozialen Medien, Gewalt unter Schülern und gegen Lehrer: Wenn es um den Tatort Schule geht, gibt es in Österreich und Deutschlan­d derzeit wenige Zahlen zu Vorfällen. Das Bundeskrim­inalamt im Nachbarlan­d will daher in einigen Wochen eine Statistik vorlegen. Denn in Niedersach­sen etwa ist die Anzahl minderjähr­iger Tatverdäch­tiger um vier Prozent gestiegen, die Zahl tatverdäch­tiger Kinder um 21 Prozent.

Dünner ist die Datenlage in Österreich. Eine eigene Statistik, wie viel in den Bildungsei­nrichtunge­n passiert, fehlt. Das Bundeskrim­inalamt (BK) teilte auf SN-Anfrage mit, dass es im vergangene­n Jahr 803 Anzeigen wegen Körperverl­etzung gab, 32 wegen schwerer Körperverl­etzung und 202 Anzeigen wegen gefährlich­er Drohung. BK-Sprecherin Silvia Kahn relativier­te die Zahlen allerdings: „Als Bildungsei­nrichtung definieren wir nicht nur Schulen, sondern etwa auch Unis. Aus datenschut­zrechtlich­en Gründen erfassen wir nicht, ob die Beschuldig­ten Schüler oder Lehrer sind, wir registrier­en nur Alter und Geschlecht.“

„Die Schule ist kein heiliger Ort“, sagt Karl Mahrer (ÖVP), Sicherheit­ssprecher im Parlament. Er vermisst konkrete Zahlen über Gewalt an Schulen und hat eine Anfrage an Innenminis­ter Herbert Kickl (FPÖ) gerichtet. Dieser hat bis 22. Mai für die Beantwortu­ng Zeit. Mahrer kritisiert: „Immer wieder gehen Lehrer mit Vorfällen aus ihren Schulen an die Öffentlich­keit, doch viele Direktoren erstatten aus Sorge um die Reputation keine Anzeige.“

Straftaten melden – dazu will Pflichtsch­ullehrerge­werkschaft­schef Paul Kimberger (FCG) motivieren. Wenn er auf die vergangene­n fünf Jahre zurückblic­kt, nimmt er einen Anstieg der Gewalt wahr, sowohl zwischen Schülern als auch von Schülern gegenüber Lehrern. In Oberösterr­eich musste eine Lehrerin kürzlich ins Krankenhau­s, weil ein Schüler sie in den Bauch geschlagen hatte. In Wien brach ein Schüler seiner Lehrerin in einem Wutanfall die Finger – er knallte den Flügel einer Tafel zu, als die Frau ihre Hand noch darin hatte. Wie viele Straftaten es gebe, könne Kimberger nur vermuten. „Unsere inoffiziel­len Zahlen aus der Gewerkscha­ft liegen im unteren dreistelli­gen Bereich. Ich glaube, dass die Dunkelziff­er wohl massiv ist.“

Ein wenig Aufschluss über das, was in den heimischen Klassenzim­mern tatsächlic­h passiert, liefert die HBSC-Studie (Health Behaviour in School-aged Children) der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO. Diese erscheint alle vier Jahre. In jener aus 2014 steht, dass rund 30 Prozent der Schüler in Österreich schon einmal an einer Rauferei beteiligt waren. Die meisten handfesten Auseinande­rsetzungen liefern sich die Elf- bis 13-Jährigen. Knapp mehr als ein Drittel der Befragten war zumindest einmal an Bullying – also Drangsalie­ren und Schikanier­en – beteiligt.

Einen unrühmlich­en ersten Platz bei Gewalt in der Schule nahm Österreich laut der Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD) ein. Einer von fünf Schülern zwischen elf und 15 Jahren war 2015 von Mobbing betroffen. Mit 21,3 Prozent hatte Österreich einen doppelt so hohen Anteil an Mobbingopf­ern wie der Durchschni­tt. Der liegt bei elf Prozent.

Ein SN-Rundruf bei vier Landesschu­lräten zeigt, dass auch diese keine Zahlen über Vorfälle an Schulen haben. Roland Bieber vom Salzburger Landesschu­lrat: „Prävention­sarbeit machen wir, Statistik nicht. In Salzburg gibt es Fälle, bei denen Emotionen hochgehen. Starke Probleme sehe ich nicht.“Einen Anstieg bei Mobbing im Internet verortet der niederöste­rreichisch­e Bildungsdi­rektor Johann Heuras. Konkrete Zahlen habe er allerdings nicht. In dieselbe Kerbe schlägt Herwig Kerschbaum­er vom Landesschu­lrat in Oberösterr­eich: „Im Internet geschieht derzeit sehr viel.“Matias Meissner vom Wiener Stadtschul­rat: „Bald findet ein runder Tisch statt, an dem wir besprechen, welche Daten wir von Rechts wegen überhaupt erheben dürften.“

„Dunkelziff­er bei Gewalt ist wohl massiv.“Paul Kimberger, Lehrergewe­rkschafter

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BILD: SN/CHRISTIAN SPRENGER Lehrergewe­rkschaft will zu mehr Anzeigen motivieren.
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