Erdo˘gan hat die Opposition mit der Neuwahl überrumpelt
Noch ist kein ernsthafter Konkurrent gegen den amtierenden türkischen Staatschef im Rennen.
ANKARA. Bei den vorgezogenen Parlamentsund Präsidentenwahlen am 24. Juni ist der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan klarer Favorit. Alles andere als sein Sieg wäre eine große Überraschung.
Am Dienstag wollte die größte Oppositionspartei, die kemalistische CHP, erst einmal ihren Kandidaten für die Präsidentenwahl nominieren. Die Beratungen dauerten am Abend noch an. Erdogan forderte Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu auf, persönlich gegen ihn anzutreten.
Wer auch immer gegen Erdoğan antritt, er wird es schwer haben. Mehr als ein Dutzend Abstimmungen haben Erdoğan und seine islamisch-konservative Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei (AKP) seit ihrem ersten Sieg 2002 bereits gewonnen. Die bevorstehende Wahl ist besonders wichtig. Sie besiegelt den Übergang von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialsystem, das dem Staatschef eine unumschränkte Machtfülle geben soll.
Die AKP tritt zur Parlamentswahl in einer „Volksallianz“mit der ultranationalistischen MHP an. Das könnte ihr sogar eine Zweidrittelmehrheit im nächsten Parlament sichern. Aber vor allem bei der gleichzeitig stattfindenden Präsidentenwahl hofft Erdoğan vom Bündnis mit der MHP und der Welle des Nationalismus zu profitieren, die seit dem türkischen Einmarsch in Syrien durch das Land rollt.
Besonnene Stimmen werden es nicht leicht haben, sich Gehör zu verschaffen. Unter dem eben erst verlängerten Ausnahmezustand können die Behörden Demonstrationen und Versammlungen, also auch Wahlkundgebungen der Opposition, nach Gutdünken verbieten. Erdoğans Kritiker sind eingeschüchtert. Seit dem Putschversuch wurden mehr als 77.000 Menschen verhaftet, gegen mehr als 402.000 Personen laufen Ermittlungsverfahren. Selbst wer sich in sozialen Medien kritisch zur türkischen Syrien-Invasion äußert, muss damit rechnen, unter dem Verdacht der Terrorpropaganda vor Gericht gestellt zu werden. Die meisten Medien hat Erdoğan gleichgeschaltet. Mehr als 90 Prozent der türkischen Zeitungen, TV-Sender und Nachrichtenagenturen liegen mittlerweile auf Regierungslinie.
Ein Gegenkandidat, der Erdoğan bei der Präsidentenwahl schlagen könnte, ist nicht in Sicht. Der Staatschef profitiert von der Zersplitterung der Opposition. Als seine stärkste Konkurrentin gilt die frühere Innenministerin Meral Akşener. Sie trennte sich 2016 von der MHP wegen deren Annäherung an Erdoğan und geht nun an der Spitze der neuen Iyi Parti, der Guten Partei, ins Rennen. Aber die rechtskonservative Akşener dürfte Schwierigkeiten haben, Stimmen der kurdischen Volksgruppe zu gewinnen.
Wenn überhaupt jemand Erdoğan gefährlich werden könnte, ist es sein alter Weggefährte Abdullah Gül. Der AKP-Mitbegründer steht Erdoğans Machtstreben kritisch gegenüber. Seit seinem Ausscheiden als Staatsoberhaupt im Sommer 2014 hat sich Gül aus der aktiven Politik zurückgezogen. Jetzt wird über seine Rückkehr spekuliert. Er könnte jene in der AKP um sich sammeln, denen Erdoğans Alleinherrschaft unheimlich wird – und das sind einige.