Der Ärmste wird zum Wunderheiler
Inmitten der Flüchtlingskrise passiert ein Verbrechen – und dann ein Wunder: Der ungarische Film„ Jupiter’ sMoon“erlaubt vielerlei Deutungs möglichkeiten, keine davon ist langweilig.
WIEN. Über die Grenze müssen sie, hinter ihnen die Hunde, die Polizisten, es ist ein Gerenne durch den Wald. Aryan (Zsombor Jéger) lässt einen Moment lang seinen Vater aus den Augen, auf einmal ist der alte Mann weg. Und dann fällt ein Schuss. Aryan liegt am Boden. Tot. Oder nicht? In „Jupiter’s Moon“(einer der Crossing-Europe-Eröffnungsfilme und ab Freitag im Kino) erzählt der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó ein magischrealistisches, womöglich zynisches, eventuell metaphysisches, garantiert aber beunruhigendes Geschehen: Ein syrischer Flüchtling wird von einem Polizisten erschossen. Der Polizist will seine Tat vertuschen, wendet sich an den bestechlichen Doktor Stern (Merab Ninidze). Doch als Stern den jungen Mann untersuchen will, der offenbar doch überlebt hat, beginnt der mitten im Behandlungsraum zu schweben. Und nach dem ersten Schreck schmiedet Stern einen genialen Plan: Der fliegende Flüchtling soll ihm als Wunderheiler ein illegales Körberlgeld verschaffen.
SN: Die Atmosphäre der Repression in Ungarn ist auch in den Nachbarländern längst spürbar geworden. Ist dieser Film eine Reaktion darauf?
Kornél Mundruczó: Absolut, es ist die Aufgabe von Kunstschaffenden, zu provozieren. Ich habe den Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 miterlebt in Budapest, und das war auf extreme Weise berührend. Wir hatten das Buch zu dem Film schon fertig, fast hätten wir das Projekt aber fallen gelassen, weil ich nicht gern zu nah an aktuellen Geschehnissen bin mit meinem Film, ich erzähle lieber Parabeln. Aber wir sind das Risiko eingegangen. Niemand kriegt klare Antworten in diesem Film, weder die Rechten noch die Linken. Ich wollte keine Botschaft, sondern eher etwas wie dieses Hieronymus-Bosch-Gemälde „Die Hölle“: Aus der Distanz wirkt es wie Chaos, und wenn du näher kommst, siehst du lauter detailreiche Szenen. Genau das haben wir versucht. Ungarn und Europa ist unter diesem Druck, einem anscheinenden Chaos zu begegnen. Doktor Stern repräsentiert für mich die Reaktion der Mehrheit: Er versucht es zunächst mit Pragmatismus, mit dem er aber nicht weit kommt.
SN: Als 2015 die Wirklichkeit dem Aufgeschriebenen ganz nah kam, haben Sie da Dinge am Film geändert?
Ja, ich hatte beispielsweise im Drehbuch einen Grenzzaun, aber als der dann wirklich gebaut wurde, habe ich ihn im Film weggelassen, das hätte ich zu direkt gefunden. Und es gab auch kleinere Änderungen, beispielsweise kommt der Bahnhof Budapest Keleti vor, es wäre blöd gewesen, das woanders zu verorten, wenn es doch dort passiert ist.
SN: Die Welt ist im Chaos, und dann geschieht das Unerklärliche, ein Erschossener kann fliegen. Haben Sie diesen Moment als spirituell beabsichtigt, oder als surreal?
Der Film ist schon die transzendente Reise einer verlorenen Seele. Doktor Stern ist im Grunde ein Bastard, er säuft, er ist lieblos, er lügt, er ist total selbstbezogen. Er braucht dieses echte Wunder. Zu Beginn will er das Wunder auch wieder nur für sich ausnutzen, und dann lernt er doch etwas. Ich bin ja der Ansicht, wir haben den Glauben verloren, und damit meine ich gar nicht den christlichen Glauben, sondern den Glauben daran, dass gute Dinge passieren können. Deswegen sind wir so voller Ängste. Wir sind dadurch leicht zu manipulieren, und jedem Populismus schutzlos ausgeliefert. Insofern handelt dieser Film so sehr vom Fallen wie auch vom Fliegen.
SN: Wenn Sie sagen, der Doktor Stern repräsentiere die Mehrheit in Ungarn, was genau ist er?
Stern ist ein verlorener linker Liberaler, er ist kein überzeugter Rechter. Aber ja, die Situation in Ungarn ist sehr labil. Wir sind ein extremes Beispiel dafür, wie wahrscheinlich fast jedes Land innerhalb der EU werden kann. Es ist inzwischen fast unglaublich, dass wir immer noch zur EU gehören und einfach so einen massiven Grenzzaun bauen können. Ich meine, ja, der Zaun ist auf dem Papier legal, aber er ist manifestes Symbol für Angst und Paranoia, und das ist zutiefst besorgniserregend. In Ungarn herrscht ein gezielter Kampf gegen die Universitäten und gegen alles, was aus Brüssel kommt. Wir scheinen momentan alles als Bedrohung zu empfinden, und das ist entsetzlich frustrierend. Das Einzige, was wir dagegen unternehmen können, ist: auf einer intellektuellen Ebene bleiben, und nachdenken, was die europäische Kultur ausmacht. Und nicht so durchdrehen und in die Paranoia kippen wie alle um uns herum. Film: „Jupiter’s Moon“. Drama, Ungarn 2017. Regie: K. Mundruczó . Mit Merab Ninidze, Z. Jéger. Start: 27. 4.