Dieser Rächer ist selbst Kind
Joaquin Phoenix rettet ein Mädchen – und in Wahrheit sich selbst.
WIEN. Eine Halskette mit dem Namen „Sandy“. Kabelbinder. Blutige Taschentücher. Ein Hammer. Und das Foto eines Mädchens, das brennend in einem Mistkübel landet: In wenigen Details umreißen die ersten Momente von Lynne Ramsays elektrifizierendem Thriller „A Beautiful Day“, worum es hier geht. Der schweigsame Protagonist, von dem anfangs nur Hände und der breite Rücken im Bild sind, befreit Kinder aus den Fängen von Pädophilenringen. Das ist sein Beruf. Einst war er Soldat, später beim FBI, jetzt macht er eben das: Er nutzt seine Fähigkeiten, um verzweifelten Eltern ihre Kinder wiederzubringen, wenn der legale Weg nicht offensteht. Joaquin Phoenix spielt diesen bezahlten Rächer namens Joe als Zornigen, vordergründig irgendwo zwischen „Taxi Driver“Travis Bickle und dem sprichwörtlichen Ritter auf dem weißen Pferd, der kleine Mädchen aus der Hölle befreit. Dieser Ritter allerdings, das wird bald deutlich, ist selbst ein gequältes Kind in einem viel zu wuchtigen Männerkörper voller Narben. Sein Pferd ist ein Mietwagen, in dem Hammer, Klebeband und Kabelbinder bereitliegen fürs Außergefechtsetzen der widerlichen Kerle, die kleine Mädchen gefangen halten, und dann noch Schokoriegel und Limonade für die Befreiten. Joe ist schließlich Profi.
Doch was tun, wenn nach der blutigen Befreiung der Vater eines Mädchens, ein Senator kurz vor der Wiederwahl, vor laufenden TV-Kameras in den Tod springt und das Kind auf brutale Weise wieder abhandenkommt? Dann steht sogar Joe vor einem Problem, das ihn persönlich einholt. Dass er mit dieser Arbeit in Wahrheit jenes Kind rächt, das er selbst einmal gewesen ist und dem niemand helfen konnte, macht Ramsay in Rückblenden deutlich, vielleicht etwas überdeutlich psychologisierend.
In Cannes wurde der Film zweifach ausgezeichnet, für Ramsays Drehbuch nach Jonathan Ames’ Roman und für den Hauptdarsteller, was nicht überrascht: „A Beautiful Day“ist eine One-Man-Show für Phoenix, der den mental beschädigten Mann mit der Würde und Drastik eines gepanzerten großen Tieres spielt, und in wenigen Szenen mit seiner Mutter eine Komplexität an Zartheit und Humor enthüllt, die den großen Schauspieler (und die große Regisseurin) deutlich werden lassen.