Auf der Suche nach einer besseren Welt
Heute versuchen wir uns Oscar Niemeyers Brasilia kulinarisch zu nähern. Herausgekommen ist ein Gericht, das einen Mann ehren soll, der stets so gearbeitet hat, als ob sein Leben „nur eine Minute“dauert – und dafür 105 Jahre alt wurde.
PETER GNAIGER (TEXT) MARCO RIEBLER (BILDER) HENNDORF.
Karl Eschlböck sitzt auf der Terrasse des Restaurants Weyringer und brummt: „Brasilianische Küche? Gibt’s net.“„Warum?“, fragt der Architekt Robert Wimmer. „Weil es in Brasilien vier Klimazonen gibt“, antwortet Eschlböck. Zwei Mal hat Österreichs Jahrhundertkoch dieses faszinierende Land besucht. In einem seien sich die vielfältigen Speisen Brasiliens aber doch ähnlich: „Sie sind fast immer eine Mischung der indigenen Küche mit portugiesischen, holländischen und deutschen Einflüssen.“
Besonders betroffen sei er beim Anblick der Armenviertel gewesen: „Wenn die Leute dort Glück haben, dann können sie zwei Mal im Jahr ein Schwein schlachten. Dann kochen sie eine Art Ragout daraus.“Er nimmt einen Schluck Wasser und sagt: „Das ist der Wahnsinn, in dem wir alle leben. Wir haben weltweit eine Überproduktion von Lebensmitteln. Auch in Brasilien. Und trotzdem müssen viele Brasilianer hungern.“
„Diese Beobachtung führt uns geradewegs zu Oscar Niemeyer“, sagt Wimmer. Unter anderem deshalb sei er auch 1945 der Kommunistischen Partei Brasiliens beigetreten. „Und mit Brasilia wollte er eine Stadt erschaffen, in der die Mächtigen neben ihren Angestellten wohnen“, fährt er fort. Man muss sich Niemeyer wohl ein bisschen wie den lieben Gott der Architektur vorstellen – so wie er von 1957 bis 1964 über sein Reißbrett gebeugt über eine vollkommene und gerechte Welt nachdenkt. Er durfte dort alle öffentlichen Gebäude entwerfen. Als die Stadt fertig war, sagte er: „Das ist eine Hauptstadt aus dem Nichts – eine Blume in der Wildnis.“
Wimmer erläutert dazu: „Hier entstand aus Staub und Trockenheit ein Ort, der mit seiner schlanken, weißen Architektur dem einfachen brasilianischen Volk das süße Lebensgefühl einer internationalen Moderne der frühen 1960er bieten sollte.“Weyringer nickt und sagt: „Das erinnert mich irgendwie an die Avocado. In Europa kennen wir diese Frucht nur sauer. Aber in Brasilien kommt sie nur als süßes Dessert auf den Tisch.“
Dieses Gericht lasse sich auch gut als Niemeyers „Nationalkongress“inszenieren. „Das klingt sehr gut“, sagt Eschlböck.
Die Vision von Niemeyers idealer Stadt galt leider schnell als gescheitert. Die Mächtigen breiteten sich in der Metropole aus – und die Armen in den Papphütten am Stadtrand. Was wohl auch mit der Machtergreifung des Militärs im Jahr 1964 zu tun hatte. „Architektur verändert nichts“, sagte Niemeyer daraufhin. Dann flüchtete der überzeugte Kommunist nach Frankreich, wo er 1967 mit dem Bau der Zentrale der Kommunistischen Partei Frankreichs beauftragt wurde. Dieses Gebäude gilt als eines der größten Meisterwerke der Architektur. Mit seiner Schönheit überwindet es spielerisch politische Gräben. So berichtet Niemeyer über ein Gespräch mit Georges Pompidou: „Als mich der Präsident einmal im Scherz – und ohne seine reaktionäre Einstellung zu verbergen – auf meinen Entwurf für die Kommunistische Partei ansprach, sagte er: ,Das ist das einzige Schöne, was die PCF bisher hervorgebracht hat.‘“Die Freude der Franzosen ist ja legendär. Voltaire erklärte sie vor 250 Jahren so: „Ich habe weit mehr Freude an einer schönen Geschichte, die nicht wahr ist, als an einem Theorem, das wahr sein kann, aber nicht schön ist.“
Weyringer kommt aus der Küche zurück. Er hat Niemeyers Nationalkongress als Avocadoschale mit Kokosmilcheis interpretiert. Die grüne Creme, die gelben Maiskörner und die zerkleinerten Pistazienkerne erinnern an die brasilianische Flagge. Wir kosten. Himmlisch. Wir essen, als ob wir beten würden. Und da gibt es ja noch etwas zu klären: Wie konnte der Atheist Oscar Niemeyer in Brasilia eine der schönsten Kathedralen der Welt entwerfen? „Das ist kein Widerspruch“, sagt Wimmer lässig. „Atheisten haben viel mehr Gespür und Fantasie. Denn die können sich nicht hinter kirchlichen Vorgaben verstecken.“Niemeyer selbst formulierte das so: „Wenn man mich fragt, was für mich Fantasie bedeutet, dann antworte ich: Fantasie ist die Suche nach einer besseren Welt.“