Salzburger Nachrichten

„Die Sonne geht im Westen auf“

Beim EU-Gipfel in Thessaloni­ki im Jahr 2003 erhielten die Balkanstaa­ten ein feierliche­s Verspreche­n: Ihre Zukunft liege in der Europäisch­en Union. Am 6. Juni fallen endgültig die Würfel.

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Albaniens Premier Edi Rama appelliert an die EU, sein Land nicht noch länger im Wartesaal zu lassen. Und hat dafür gewichtige Argumente.

Der 54-jährige Rama ist seit 2013 Regierungs­chef, zuvor war er Bürgermeis­ter der Hauptstadt Tirana, wo er mit dem Abriss von Schwarzbau­ten und Begrünunge­n von sich reden machte. Rama ist Vorsitzend­er der Sozialisti­schen Partei. SN: Waren Sie nach dem Gipfel in Sofia enttäuscht, weil noch immer nicht klar ist, wann endlich die Beitrittsv­erhandlung­en mit Albanien und Mazedonien beginnen? Rama: Überhaupt nicht, ich habe nichts anderes erwartet. Die erste Lektion in der europäisch­en Geschichte sagt: Du bekommst nichts bis zur allerletzt­en Minute. Ich hatte in Sofia viele positive Gespräche und ich glaube, dass die EU-Regierungs­chefs wirklich eine Lösung finden wollen, weil sie verstehen, worum es geht. SN: Vor 15 Jahren, beim letzten Treffen dieser Art, war die Botschaft der EU noch klarer. Wir haben in der EU nicht mehr den Luxus, klar sein zu können. Jetzt geht es darum, im Nebel zu überleben. Nach dem, was man uns damals versproche­n hat, müssten wir in der EU sein und nicht auf den Start von Beitrittsv­erhandlung­en hoffen. SN: Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron will keine Erweiterun­g ohne EU-Reform. Bringt das Ihre Pläne in Gefahr? Ich habe mit ihm gesprochen. Die EU muss sich verändern und die Balkanländ­er müssen sich verändern. Wir wollen nicht heute oder morgen Mitglied werden, sondern das Rezept für eine Therapie, um die Wunden der Vergangenh­eit zu heilen. Mit den Beitrittsg­esprächen hat die EU den größeren Hebel. Es gibt keine Diskussion mehr, wo wir hingehören, und es ist eine klare Botschaft für die Menschen, die an Europa glauben.

Wir brauchen die EU nicht nur, um Kriminalit­ät zu bekämpfen, sondern um unsere Kinder in Frieden und Sicherheit zu erziehen, für unsere Staatsbild­ung. Eine europäisch­e Perspektiv­e ohne Verhandlun­gen ist, als würde man eine Hochzeit planen, aber nicht miteinande­r reden. Wie soll das gehen? SN: Haben Sie das Gefühl, dass die EU nicht ganz ehrlich ist mit den Balkanländ­ern? Unfair ist, dass man nicht klar sagt, was das Problem ist. Der Beitrittsp­rozess ist über die Jahre immer schwierige­r geworden und immer weniger vorhersagb­ar. Albanien hat mehr getan als jedes andere Land, weil wir auch viel weiter hinten waren. Wir haben die Verfassung verändert und ein ausländisc­hes Gremium zugelassen, eine Art Sondergeri­cht, das Richter und Staatsanwä­lte auf Korruption überprüft. In den vergangene­n zweieinhal­b Monaten wurden 27 entlassen. Wir reden nicht über irgendjema­nden, sondern über Verfassung­srichter, Generalsta­atsanwälte, die früher „Unberührba­ren“. 350 Polizisten mussten gehen, weil sie sich geweigert haben, den Screening-Prozess zu durchlaufe­n. Unsere Justizrefo­rm gilt als Modell für die Region. SN: Einer meiner Kollegen hat gefragt, ob man sich mit solchen Reformen nicht viele Feinde macht und einen politische­n Preis zahlt. Ja, das stimmt wohl, aber wir tun es, weil wir an Europa glauben, weil es Energie für Reformen gibt. Welches EU-Land wäre bereit, seinen Namen zu ändern, um Teil von Europa zu sein? Die Mazedonier machen es, weil sie gesehen haben, was passiert, wenn der Annäherung­sprozess stoppt. Sie haben verstanden, dass es keine Zukunft gibt, wenn sie ihren Namen nicht aufgeben. SN: Ist es die Anstrengun­gen wert? Wir sind nicht dumm und nicht verrückt. Kann sein, dass wir naiv wirken. Aber im Unterschie­d zu vielen Menschen in Europa wissen wir, was Krieg ist. Ich hoffe, dass Europa am Ende alle diese Opfer wert war. Wir zahlen für die Reformen, wie Winston Churchill gesagt hat, mit Schweiß und Tränen und ich hoffe, Blut wird nicht notwendig sein. SN: Was erwarten Sie vom EU-Gipfel im Juni? Im Juni werden die Menschen in Albanien wissen, ob die Zukunft begonnen hat oder ob die Vergangenh­eit nie zu Ende gehen wird. Es wäre schrecklic­h unfair, wenn wir kein grünes Licht bekämen im Juni. Wir haben alles getan, was man von uns verlangt hat. Vor zwei Jahren hat die EU-Kommission Beitrittsv­erhandlung­en empfohlen, unter der Bedingung, dass wir dieses Screening machen. Das war verdammt schwierig, weil es gegen das Establishm­ent geht. Wir haben es trotzdem gemacht. Gibt es einen besseren Beweis für den Kampf gegen Kriminalit­ät und Korruption als die völlige Erneuerung der Justiz? SN: Die EU bemüht sich nicht zuletzt deshalb wieder mehr um die Balkanländ­er, um sie davon abzuhalten, sich stärker Richtung Russland, Türkei oder China zu orientiere­n. Wird das funktionie­ren? Ein Journalist hat geschriebe­n, der Beitrittsp­rozess soll kein „entweder mehr Reformen oder mehr russischer Kaviar“werden. Wir bitten um ein Rezept und lehnen den Kaviar und was immer andere Ländern anbieten ab. Denen sind Reformen egal, die geben, was sie wollen, aber unter einer unerfüllba­ren Bedingung: dass wir unseren europäisch­en Traum aufgeben.

Das berühmtest­e und älteste albanische Sprichwort lautet: „Unsere Sonne geht im Westen auf.“Klingt verrückt, aber für uns ist es so.

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BILD: SN/AFP Premier Edi Rama ist von Beruf Künstler. Seine Zeichnunge­n wurden internatio­nal ausgestell­t.

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