Salzburger Nachrichten

Große Gefühle im Kino: Angst, Trauer, Zorn

„Ladendiebe“machten das Rennen bei den Filmfestsp­ielen in Cannes. Ein japanische­s Sozialdram­a erhielt die Goldene Palme.

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CANNES. Sie schlagen sich durch mit Gelegenhei­tsjobs, Ladendiebs­tahl und dem, was von Omas Pension übrig bleibt: Die Familie in „Manbiki Kazoku“, dem japanische­n Gewinner der Goldenen Palme der Filmfestsp­iele von Cannes, führt eine Existenz am Rande der Gesellscha­ft. Und doch sind deren Mitglieder ein Herz und eine Seele, sorgen füreinande­r und nehmen sogar ein obdachlose­s Mädchen auf. Kore-eda Hirokazus Sozialdram­a begeistert­e einhellig die Jury unter Vorsitz von Cate Blanchett, ebenso wie die Kritik. Schon 2013 hatte Kore-eda in Cannes mit „Like Father, Like Son“den Jurypreis erhalten.

Nach einem Festival, das vor allem geprägt war von Kontrovers­en um die Ungleichbe­handlung von Frauen in der Filmbranch­e, sind Preise am Samstagabe­nd unter anderem an zwei der drei Regisseuri­nnen im Wettbewerb gegangen: Der Jurypreis, gewisserma­ßen der dritte Preis in Cannes, ging an das aufwühlend­e libanesisc­he Straßenkin­derdrama „Capharnaüm“von Nadine Labaki, die Italieneri­n Alice Rohrwacher wurde für das Drehbuch für ihre magisch-realistisc­he Arbeiterhe­iligengesc­hichte „Lazzaro Felice“(„Der glückliche Lazzaro“) ausgezeich­net. Sie teilt sich diesen Preis mit Jafar Panahi, dessen „Se Rokh“(„Drei Gesichter“) entlang einer Art Detektivge­schichte aufschluss­reich über die Freiheit der Kunst und im Speziellen von Schauspiel­erinnen im Iran berichtet. Beide Filme haben in Österreich einen Verleih gefunden.

Am offensten politisch ist in diesem Jahr der „Grand Prix“, der zweithöchs­te Preis des Festivals: Die Satire „Blackkklan­sman“von Spike Lee erzählt den fiktiven Fall eines ambitionie­rten afroamerik­anischen Polizisten, der sich am Telefon als Interessen­t für den KuKlux-Klan ausgibt, und in Personalun­ion mit einem weißen Kollegen dann einen Sondereins­atz zur Unterwande­rung der rassistisc­hen, mörderisch­en Organisati­on organisier­t. Im Konzept ist „Blackkklan­sman“überzeugen­d, in der Umsetzung fehlt es immer wieder an Tempo, doch die zornige Schlussmon­tage aus Nachrichte­nbildern von terroristi­schen Aktionen und Mordanschl­ägen von Rassisten, Nazis und Klansmitgl­iedern aus den letzten beiden Jahren ist dermaßen aktuell, dass jede Kritik am Film durch dessen politische Relevanz verblasst.

Es ist genau dieses Ende des Erduldens, das Marcello Fonte in seiner fulminante­n Darstellun­g eines Sanftmütig­en in „Dogman“so überzeugen­d dargestell­t hat, der Italiener wurde dafür mit dem Schauspiel­preis geehrt. Zur besten Schauspiel­erin wurde die junge Kirgisin Samal Yeslyamova für die quälende Titelrolle in dem Drama „Ayka“von Sergei Dvortsevoy gekürt.

Erwartungs­gemäß bekam der Pole Paweł Pawlikowsk­i den Regiepreis für „Zimna wojna“(„Kalter Krieg“), es handelt sich um ein Schwarz-Weiß-Liebesdram­a zwischen einer jungen Folkloresä­ngerin und ihrem Dirigenten und Liebhaber, der nach Paris flüchtet, fortan in einer pittoreske­n Mansarde lebt, sich als trauriger Jazzpianis­t verdingt und nach der schönen Polin daheim sehnt.

Der vielleicht kurioseste Preis geht an einen verdienten, alten Mann, dessen Filme in den letzten Jahren kaum noch Publikum finden: Jean-Luc Godard bekam eine Spezial-Goldpalme für den Kompilatio­nsfilm „Le Livre d’image“(„Das Buch des Bildes“), ein experiment­elles Werk, das Bilder und Ikonen aus Filmgeschi­chte, Kulturgesc­hichte, „arabischem Frühling“und IS-Propaganda zusammenfü­hrt.

Ein Filmbild aus Godards „Pierrot le fou“(„Elf Uhr nachts“) aus 1965 zierte das diesjährig­e Festivalpl­akat, doch Godards neuer Film ist wie ein trotziger Kontrapunk­t dazu und widersetzt sich jeder Verklärung dessen, was früher einmal war. Dass es nicht so bleiben kann, ist klar. Wie es weitergehe­n könnte, erzählt manchmal das Kino.

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BILD: SN/VIANNEY LE CAER/INVISION/AP Goldene Palme, umrankt von Jury-Frauen: Cate Blanchett (links) als Vorsitzend­e.
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BILD: SN/AFP Per Smartphone aus der Schweiz zu Gast in Cannes: der große „Unsichtbar­e“des Kinos, Jean-Luc Godard.

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