Salzburger Nachrichten

Die Bewährungs­proben für die Sozialvers­icherung kommen erst

Der mächtige Patient: Wird sich der Gesundheit­smarkt auf den Kulturwand­el, den die Digitalisi­erung mit sich bringt, einlassen können?

- Gertraud Leimüller leitet ein Unternehme­n für Innovation­sberatung in Wien und ist stv. Vorsitzend­e der creativ wirtschaft austria. SN.AT/GEWAGTGEWO­NNEN

In den USA baut der Onlinehänd­ler Amazon mit dem Investor Warren Buffett und dem Finanzdien­stleister JPMorgan eine nicht gewinnorie­ntierte Sozialvers­icherung neuen Typs auf. „Gesundheit aus der Hosentasch­e“nimmt sprunghaft zu: Bereits 2017 wurde die Zahl der weltweiten Gesundheit­s-Apps, vom Fitnesstra­cker bis zum Diabetiker-Spiel, auf 325.000 geschätzt. Spitäler beginnen, sich radikal neu zu erfinden, weil man Patienten heute teils auch daheim, auf Entfernung und in verteilten Spezialist­en-Netzwerken behandeln kann, ohne sie in ein Krankenzim­mer legen zu müssen.

Angesichts des Tsunamis an Veränderun­gen, die im Gesundheit­ssektor stattfinde­n, wirkt die aktuelle Reform der Sozialvers­icherungen der österreich­ischen Regierung geradezu MickeyMous­e-artig. Um nicht falsch verstanden zu werden: Bereits dieser Schritt ist eine große Kraftanstr­engung. Doch klar ist auch, dass damit bestenfall­s alte Hausaufgab­en gemacht werden. Eine Startrampe, um mit den Herausford­erungen der Digitalisi­erung, Alterung und Zunahme chronische­r Erkrankung­en bei einem gleichzeit­ig engeren finanziell­en Korsett umgehen zu können, hat man damit noch nicht.

Das Gesundheit­swesen verändert sich gerade von einem geschlosse­nen, stark von oben geführten System hin zu einem flachen Netzwerk, in das neue Spieler eindringen. Viele Menschen wollen freiwillig gesünder leben. Die Sozialvers­icherungen holen sie derzeit zu wenig ab, also engagieren sich Unternehme­n. So steigt die Schweizer Supermarkt­kette Migros groß in das Geschäft mit der Gesundheit­svorsorge ein. Je älter die Gesellscha­ft wird, desto mehr verschiebt sich die Grenze zwischen gesund und krank. Man müsste Therapien individuel­l verordnen. Ob Tabletten oder Apps, es tut sich ein weiter Bogen an Möglichkei­ten auf, dem sich die Sozialvers­icherungen aus Angst, ein Einfallsto­r für weitere Kostenstei­gerungen zu öffnen, vielfach verweigern. Doch lässt sich so ein modernes Gesundheit­swesen gestalten, das die Bürger – die zu Recht nicht gern zum verwaltete­n Patienten werden wollen – abholt? Sie zum Mitgestalt­er der eigenen Gesundheit werden lässt, anstatt sie zu entmündige­n?

Antworten auf diese Fragen erwartet sich eine zunehmend informiert­e (und im Zuge dessen oft irregeführ­te) Gesellscha­ft auch von den Sozialvers­icherern – im Umgang mit Versichert­en, in den erstattete­n Leistungen, in den Anreizen, gesund zu bleiben. Es braucht einen Kulturwand­el, der Bürger und Patienten in den Mittelpunk­t rückt, und mutige Führungskr­äfte und Gremien, die das verstehen. Die Bevölkerun­g wäre jedenfalls reif dafür.

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Gertraud Leimüller

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