1958 Die erste Reise in den Süden
Langsam, aber sicher zieht es die Österreicherinnen und Österreicher nach Italien oder Kroatien. Die ersten Reisen sind spartanisch: Übernachtet wird im Zelt, Restaurantbesuche sind eine Ausnahme. Aber die Freude am Urlaub wächst.
BRAUNAU. Franz Antels Komödie „Oh … diese Ferien“kommt 1958 ins Kino. In dem Film fährt Familie Petermann zu sechst in den Urlaub nach Italien. Im selben Jahr läuft im Radio ständig der italienische Schlager „Volare“– es ist der Hit des Jahres 1958. Sänger Domenico Modugno tritt damit im März beim Grand Prix Eurovision de la Chanson auf und landet auf Platz drei. Ende der 1950er-Jahre wächst auch bei den Österreichern stetig die Sehnsucht nach dem Süden.
So war es auch bei Elfriede und Siegfried Gnaiger aus Braunau, die sich vor 60 Jahren zum ersten Mal an den Gardasee aufmachten. Sie waren beide 19 Jahre alt. „Wer damals nach Italien gefahren ist, der war schon wer“, sagt Elfriede Gnaiger. Massentourismus, wie wir ihn heute kennen, gab es damals noch nicht. Das erklärt Peter Zellmann, Leiter des österreichischen Instituts für Freizeit- und Tourismusforschung (IFT) in Wien. „Vor allem in der Nachkriegszeit fuhr der gehobene Mittelstand eher zur Sommerfrische. Auslandsreisen waren die Ausnahme.“Die Menschen suchten Erholung in ihren Nahbereichen, machten Ausflüge oder besuchten Verwandte. „Kinder wurden zu ihren Großeltern aufs Land geschickt“, erklärt Zellmann. „Die wenigsten konnten sich einen Urlaub leisten, es war ein Minderheitenprogramm.“
Auch Elfriede und Siegfried Gnaiger mussten sich ihren Urlaub vom Mund absparen. Elfriede arbeitete als Schneiderin, Siegfried als Schweißer in den Vereinten Metallwerken Ranshofen (heute AMAG). Gemeinsam mit Siegfrieds älterem Bruder Eduard und dessen Freundin Waltraud fuhren sie in einem Opel Rekord Richtung Süden. „Wir hatten im Jahr nur 14 Tage Urlaub“, erinnert sich Siegfried. An Bord waren zwei Zelte und Konserven. „Damals gab es das noch nicht, dass man in Restaurants ging. Unser Geld haben wir lieber für Kleidung ausgegeben“, erzählt Elfriede. Dann hatte man nämlich daheim auch etwas vorzuzeigen.
Auch wenn ein Restaurantbesuch selten war, findet sich in der Ausgabe der „Salzburger Nachrichten“vom 12. Juli 1958 doch ein Tipp für Italienreisende mit dem Titel Können Sie Spaghetti essen? Die Antwort folgt gleich zu Beginn: Natürlich, werden Sie sagen – warum denn nicht? Ich meine aber, ob Sie ein italienisches Spaghettigericht – eines mit ellenlangen Nudeln – ohne Schwierigkeiten essen können? Ich glaube nicht. Denn jeder Nichtitaliener kämpfe verzweifelt mit den langen Strähnen, die auf seinem Teller zu einem Berg gehäuft sind. Die Lösung folgt: Hungern Sie lieber zuerst einmal und – während Sie zum Trost einen Asti Spumante trinken – schauen Sie geflissentlich den artistischen Künsten der spaghettiessenden Italiener zu und erst das nächste Mal versuchen Sie es selbst. Dann folgt aber noch ein wichtiger Hinweis: Keinesfalls sollte man den Fehler machen, gänzlich auf Spaghetti zu verzichten. Tun Sie das nicht – Sie würden sich eines großen Reizes berauben.
Aber für Italien-Reisende gab es mehr zu lernen, als beim Essen eine gute Figur zu machen. Diese Erfahrung machte auch Siegfried Gnaiger, als ihm auf dem ersten italienischen Rastplatz eine goldene Armbanduhr angeboten wurde. Er schlug sofort zu. Leider entpuppte sich die Uhr rasch nicht nur als wert-, sondern auch als funktionslos.
Der Aufschwung norditalienischer Badeorte wie Lignano oder Caorle setzte Anfang der 1960er so richtig ein. Das erklärt Tourismusexperte Zellmann. „Das waren die klassischen Urlaubsziele für Familien, die mit vollgepackten Autos reisten.“
Das Österreichische Verkehrsbüro, das im Vorjahr sein 100-jähriges Bestehen feierte, bot bereits in den 1950er-Jahren Reisen ans Mittelmeer an. Sogenannte Bäderdrahrer – Busse oder Züge – brachten Österreicher Samstag früh an die Obere Adria, eine Woche später ging es nachts wieder zurück. So reisten im Jahr 1948 nach Angaben des Österreichischen Verkehrsbüros 300 Österreicher nach Italien und Jugoslawien. 1951 waren es bereits 13.000. 1954 gründete das Verkehrsbüro den „Austropa Express“. Mit diese internationalen Rundreisezügen fuhren Reisende in fünf Tagen zum Beispiel durch ganz Italien, von Venedig bis Rom – zwischen 700 und 900 Österreicher nahmen jeweils daran teil. Die Übernachtungen im Ausland stiegen 1955 innerhalb eines Jahres um 29,6 Prozent.
Die Reisefreudigkeit wuchs kontinuierlich. „Urlaub ist die populärste Form von Glück. Es ist nach Weihnachten die wichtigste Zeit im Jahr – und ähnlich emotional aufgeladen“, erklärt Zellmann. Wichtig sei dabei gar nicht so sehr, womit man diese Zeit fülle. Die Zeit an sich sei wichtig, „weil es grundsätzlich etwas ganz anderes ist“. Der Massentourismus in seiner heutigen Form wurzelt in den 1970er-Jahren. „Die Zäsur waren dann billige Flüge und der Chartertourismus“, erklärt Zellmann. „Das war der Durchbruch für den Massentourismus.“Das Erfolgsprinzip der Badeorte an der Adria konnte sich aber behaupten. Es lautet: Viel Strand. Zellmann erklärt: „Davon sind junge Familien mit Kindern auch heute noch fasziniert.“
Auch Elfriede und Siegfried Gnaiger sind die unbeschwerten Urlaubstag am Gardasee und in den Jahren danach an der oberen Adria in guter Erinnerung geblieben – bis heute ist ihnen ihre Reisefreudigkeit erhalten gelieben.
Erst kürzlich reisten die beiden nach sechs Jahrzehnten wieder an den Gardasee. Dieses Mal waren sie mit einer Gruppe im klimatisierten Reisebus unterwegs – ohne Konservendosen, dafür mit Kapselkaffee. Als Mitbringsel gab es keine Kleidung mehr, im Einkaufskorb landeten Käse und andere landesspezifische Köstlichkeiten.
Und ihr Resümee nach den Jahrzehnten? „Es waren überall so viele Menschen unterwegs. Man könnte fast meinen, dass heute niemand mehr arbeiten muss.“