Die Kunst ist arm, aber das Werk ist reich
Marisa Merz, einzige weibliche Hauptfigur der „Arte Povera“, kommt in Salzburg mit einer großen Werkschau zu späten Ehren.
SALZBURG. Viel zu spät gewürdigt, viel zu lange sträflich vernachlässigt, endlich in den großen Museen angekommen: Solche Formulierungen liegen nahe, wenn ein künstlerisches Lebenswerk erst mit Verzögerung die große Aufmerksamkeit erhält. Auf Marisa Merz träfen sie ohne Weiteres zu: Die großen Einzelausstellungen, die ihr seit den 1960er-Jahren gewidmet waren, lassen sich an zwei Händen abzählen. Als Meilenstein für eine neue Wertschätzung ihrer Arbeit gilt erst der Goldene Löwe, den sie 2013 bei der Kunstbiennale von Venedig für ihr Lebenswerk erhielt. 87 Jahre alt war die italienische Künstlerin zu diesem Zeitpunkt.
Mittlerweile sei sie 92 und arbeite „immer noch täglich in ihrer Wohnung in Turin“, sagte Sabine Breitwieser, die Direktorin des Salzburger Museums der Moderne, am Donnerstag. Auf dem Mönchsberg ist der einzigen weiblichen Hauptfigur der „Arte Povera“-Bewegung ab nun die erste große österreichische Retrospektive gewidmet.
Die italienische Kunstströmung, zu deren Gründergeneration Marisa Merz und ihr Mann Mario Merz gehörten, hatte kein großes Manifest. Ihr Prinzip aber war die Auflehnung gegen alles Elitäre. Kunst wurde aus dem gemacht, was auch im Alltag greifbar war: Reißnägel, Wachs, Ton, Nylonfäden und Kupferdraht tauchen in den Materialangaben der Bilder, Skulpturen und Installationen von Marisa Merz oft auf.
Aus dem Leben gegriffen sei Merz’ Arbeit immer, erläuterte Breitwieser beim Pressetermin und zitierte aus einem frühen Interview der Künstlerin: „Es gab niemals eine Trennung zwischen meiner Arbeit und meinem Leben.“So „arm“die Materialien bewusst gewählt sind, so reich präsentiert sich das Lebenswerk von Marisa Merz aus fünf Jahrzehnten. Dass es im großen Kunstbetrieb dennoch selten gewürdigt wurde, dass sie oft im Schatten ihrer männlichen Kollegen zurückblieb, hat aber vielleicht auch mit ihrem eigenen Blick auf ihre Kunst zu tun. Es sei nicht immer leicht, die Spuren ihres Werks zu verfolgen, sagte die US-Kuratorin Connie Butler. Jahreszahlen, Werktitel oder andere Kategorien, nach denen Kunsthistoriker sonst gern ein künstlerisches Schaffen sortieren, habe Merz stets dankend abgelehnt. Vom Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn bis zu den jüngsten Arbeiten der Schau – 2016 entstandenen Engelsbildern – trägt ein Großteil der Werke die schlichte Bezeichnung „Ohne Titel“. Alle Versuche, ihr Tun einzuordnen, würde Merz höchstens „amüsiert beobachten“, sagte Butler.
Den Versuch einer chronologischen Ordnung unternehme die Retrospektive (die vor Salzburg am Hammer Museum in L. A. und am MoMa in New York zu sehen war) dennoch, sagte Breitwieser. So lässt sich Merz’ Lebenswerk nun von Beginn an entdecken: von der „Living Sculpture“, die sich seit 1966 stetig verändert, und den luftigen Schuhen, die Merz aus Nylon strickte, über die filigranen Kupferdraht-Bilder bis zu den Kopfskulpturen – und den Gedichten, die auch Teil der Werkschau sind.
Draußen, vor dem Museum, steht übrigens seit 2003 ebenfalls eine Merz-Arbeit: Die Skulptur „Ziffern im Wald“ist Teil des Kunstprojekts der Salzburg Foundation. Ausstellung: Marisa Merz: Il cielo è grande spazio/Der Himmel ist ein weiter Raum. Museum der Moderne Mönchsberg, bis 4. November.