„Höhenrausch“lässt in die Tiefe blicken
Große Aussicht, gepaart mit Einsichten in die zeitgenössische Kunst: Das ist das Erfolgsrezept des Parcours über den Dächern von Linz.
Groß und mächtig sieht er aus der Ferne aus, bei näherer Betrachtung wirkt er allerdings auch mächtig zerbrechlich: Aus den Wracks kleiner Fischerboote, die das Meer anschwemmte, hat der kubanische Künstler Alexis Leyva Machado seine überlebensgroße menschliche Figur gefertigt. Auch Metall, Netze, Fischblut und Fischerschweiß sind als Materialien, aus denen der hockende Riese geformt ist, angeführt. An die Hoffnungen und die Gefahren, die mit dem Weg über das Meer verbunden sind, mahnt die Skulptur. Dass „Der Denker“aber nicht an einem Ufer wacht, sondern hoch über den Dächern von Linz, liegt an dem Kunstformat, in dem er seit gestern, Donnerstag, gemeinsam mit Arbeiten von rund 40 weiteren Künstlern zu sehen ist.
In Linz hat ein neuer „Höhenrausch“eröffnet. Nach einem Jahr Pause verbindet das OÖ Kulturquartier unter diesem Namen wieder zeitgenössische Kunst mit der Idee eines Erlebnisparcours. Aus den Ausstellungsräumen im Ursulinenhof führt er über den Dachboden der Ursulinenkirche bis zum Oberdeck des angrenzenden Parkhauses. Der spektakuläre Ausblick über die Dächer der Stadt ist bei den Einblicken in die Kunst also inklusive. Nicht erst vom Dach aus ist das fliegende Schiff des russischen Künstlers Alexander Ponomarev zu sehen, das am hohen Aussichtsturm anzudocken scheint. Es dient als inhaltliches Leitbild für den diesjährigen „Höhenrausch“. Obwohl der Kunstparcours weit nach oben führt, dreht sich heuer alles um Wasser. Der Untertitel „Das andere Ufer“beinhalte die ambivalente Rolle, die das Element sowohl in menschlichen Sehnsüchten als auch im menschlichen Leid spiele, erläutern Elisabeth Schweeger und Genoveva Rückert als Kuratorinnen: Wasser als Lebensspender, Wasser als schwer zu überwindende, oft tödliche Grenze. Dramatisch-reale Szenen von kenternden Flüchtlingsbooten kontrastiert etwa Tracey Moffatt in einer Videoarbeit mit theatralischen Reaktionen von Hollywoodstars.
Die Balance zu halten zwischen plakativen und „beinahe unsichtbaren“Arbeiten, lauten und leisen Werken, sei beim Kuratieren des „Höhenrausches“ebenfalls stets Teil der Kunst, sagt KulturquartierDirektor Martin Sturm.
Nur mehr als Spiegelung auf dem Wasser sind etwa die Menschen zu sehen, die in drei Fotoprints von Jeannette Ehlers wie eine stumme Prozession durch das Bild ziehen. Die dänische Künstlerin erforscht mit ihren Arbeiten die Kolonialgeschichte Dänemarks. Diese sei heute fast verdrängt, sagt Ehlers, aber ihre Spuren seien überall auffindbar. Auch der Wohlstand des Landes sei in die Zeit des Sklavenhandels zurückverfolgbar.
Leise, aber eindringliche Wirkung entfaltet auch die Installation, mit der Nelo Akamatsu einen ganzen Raum erfüllt. Auf schmalen Regalen stehen unzählige Wassergläser. In ihnen schwimmen Nadeln. Jedes Mal, wenn sie von Magnetwellen in Bewegung gesetzt werden, erzeugen eine kleine Wassermusik. „Dieser Raum braucht Ruhe“, sagt Kuratorin und Theaterexpertin Schweeger beim Presserundgang. Weil es beim „Höhenrausch“immer aber auch ums Spektakuläre geht, zieht die Gruppe weiter aufs Dach.
Der Blick, der sich von ganz oben über die Stadt bietet, sei sicher „ein Erfolgsfaktor“des „Höhenrausches“, sagt Kuratorin Genoveva Rückert. Seit Linz im Jahr 2009 Kulturhauptstadt war, hat sich das Format als publikumsträchtiger Weg erwiesen, um Besucher spielerisch zur zeitgenössischen Kunst zu bewegen. Auf einem der Dächer sind sogar noch die blauen Schindeln zu sehen, die das allmählich verblassende Logo von „Linz09“formen.
Wer die Donau sehen will, muss noch weiter hinauf, zum hohen Aussichtsturm. Aber entlang eines der hölzernen Stege, die über die Dächer führen, hat Künstler Michael Aschauer stellvertretend eine seiner „River Studies“montiert: Ein Panoramabild mit geringer Höhe aber imposanten 60 Metern Länge, aufgenommen bei einer Fahrt auf der Donau. Ihn interessierten „Flüsse als Lebensadern“, sagt Mauracher. Alles fließt: Auch auf dem luftigen Parkdeck, das mit swimmingpoolblauer Farbe bemalt ist. Hier bietet Benjamin Bergmanns „Fontana“die Brücke zwischen Kunst und Event: Die Installation aus Rohren und Pumpen liefert Wasserspiele für jedermann. Auch das Kindervermittlungsprogramm ist auf dem Deck zu finden. Zurück im Kulturquartier, im letzten Ausstellungsraum, findet sich eine der aufwendigsten Arbeiten: Der ganze Saal ist mit einem dicht versponnen Gewebe erfüllt. Auf dem Boden lässt die japanische Künstlerin Chiharu Shiota metallene Bootsgerippe stranden. Den Raum über ihnen nimmt das Geflecht aus zweitausend Knäueln roter Wolle ein. „Uncertain Journey“, also „Reise ins Ungewisse“, heißt ihre Arbeit. Ausstellung:
„Wasser, dieses fließende Element, kann auch eine harte Materie sein.“