Die kleine alte Frau und der große junge Mann
„Augenblicke: Gesichter einer Reise“ins Kino – ein Wunderding voller Ziegen, Lebensklugheit und sanfter Boshaftigkeit.
WIEN. Wenn man wollte, könnte man sich fürchterlich ärgern, mit aller Berechtigung. Man könnte sich ärgern, dass Agnès Varda, eben 90 gewordenes Regie-Urgestein der Nouvelle Vague, von ihren männlichen Kollegen wie Truffaut, Rohmer, Rivette und Godard immer wieder nicht für voll genommen wurde. Erst 2017 bekam sie den Ehrenoscar für ihr Lebenswerk, unter anderem aus Anlass des Films, der nun ins Kino kommt: „Augenblicke: Gesichter einer Reise“ist Agnès Vardas jüngstes Werk, aber bestimmt nicht ihr letzter Film, sie arbeitet bereits am nächsten Projekt.
Doch Agnès Varda ist keine, die sich gerne ärgert, sie ist lieber produktiv, verschmitzt und geht auf andere neugierig zu. In „Augenblicke“arbeitet sie mit dem 33-jährigen französischen Foto- und Videokünstler JR zusammen, der das visuelle Repertoire von Instagram und Streetart beherrscht und ansonsten kompetent in Sachen Selbststilisierung ist.
Gemeinsam reisen die beiden für den Film quer durch Frankreich, „um die Menschen kennenzulernen“, was genau jener auf den ersten Blick naive Zugang ist, mit dem Varda immer wieder auf die Subjekte ihrer Filme zugeht.
Die kleine alte Frau mit den ikonischen rot-weißen Haaren und den bunten Kleidern und der große junge Mann mit der ewigen Sonnenbrille und dem Hütchen: Unweigerlich wirken sie wie Fremdkörper, wenn sie eine nordfranzösische Ziegenbäuerin ausfragen nach dem Umgang mit den Tieren, wenn sie sich bei der Belegschaft einer Fabrik über die Arbeitsbedingungen erkundigen, mit Hafenarbeiterinnen diskutieren und mit den Nachbarn eines verlassenen Dorfs, mit einem Bergmann, einem Briefträger, einer Kellnerin. Aus den Begegnungen, die Varda filmt, macht JR Fotos, die er überdimensional auf die jeweiligen Gebäude affichiert, sie werden zu Denkmälern für ganz normale Menschen, die auf einmal gesehen werden.
Und irgendwann stehen die beiden bei Jean-Luc Godard vor der Tür, bei dem sich Varda angekündigt hatte. Der alte Kollege allerdings öffnet nicht. Sie hängt ihm ein Sackerl mit Süßigkeiten vom Bäcker an die Türklinke. Ob inszeniert oder nicht, der Moment ist von vielsagender Bitterkeit und erdet die zwischendurch fast zu drollig anmutende Reise.
Film: Augenblicke: Gesichter einer Reise. Road Movie, Frankreich 2017. Regie: Agnès Varda, JR. Start: 1. 6.