Der Zaun in den Köpfen
Kurz vor der „Tatort“-Sommerpause gerät das bayrische Ermittlergespann in eine abgekapselte Gemeinschaft demokratiefeindlicher Reichsbürger.
Florian Berg liegt tot in einer Badewanne. Seine Pulsadern sind aufgeschnitten, aber die Tatwaffe fehlt. Florians Mutter beschuldigt die Freiländer. Bei diesen Reichsbürger-artigen Aussteigern, die sich in einem verlassenen Zipfel Niederbayerns abgekapselt haben, war der Tote für die Buchhaltung zuständig. Bis er sich im Streit von der Gruppe und ihrem charismatischen Führer Ludwig Schneider (Andreas Döhler) trennte.
Die Kommissare Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Batic (Miroslav Nemec) begeben sich auf eine lange Autofahrt ins fiktive Örtchen Traitach. Selbst außerhalb des imposanten Zauns, mit dem sich die Freiländer abschotten, scheint deren „Staat“sehr einflussreich zu sein.
In Zeiten, da Verschwörungstheorien blühen, hat die absurde Reichsbürgerbewegung in Deutschland einigen Zulauf. 15.000 Mitglieder rechnete der Verfassungsschutz im September 2017 der Gruppierung zu – Tendenz: stark steigend. Etwa 1000 unter ihnen gelten als rechtsextrem und gewaltbereit.
Drehbuchautor Holger Joos („Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz“) beging nicht den Fehler, die Reichsbürger seines „Tatorts“von Anfang an in eine böse Ecke zu stellen. Als Leitmayr und Batic den „Alten Eber“erreichen, den Gasthof des menschenleer scheinenden Dörfchens an der tschechischen Grenze, finden sie die Bewohner bei einer Veranstaltung der Freiländer vor.
Deren von Andreas Döhler („Millionen“) gespielter Anführer schafft es, tatsächliche Begeisterung und Aufbruchsstimmung für ein neues Leben zu vermitteln. So wie das junge Amerika sich einst von der britischen Krone lossagte, will auch er Deutschland die lange Nase zeigen. Die Gesetze und Autoritäten des in seinen Augen illegitimen Staates erkennt er nicht an.
Der Plan: Seine Freiländer wollen immer mehr Land kaufen und desillusionierte Dörfler sowie Zugereiste vom besseren Leben im Freiland überzeugen – um dort den Traum eines sozialistisch-solidarischen Paradieses zu leben – freilich mit rechtem Gedankengut.
Durch die Augen von Batic und Leitmayr erlebt der Zuschauer die Ohnmacht des Rechtsstaats gegenüber der aggressiven Verweigerung der Freiländer. Die örtliche Polizei, symbolisiert durch den urigen Dorfpolizisten Mooser (Sigi Zimmerschied), hat längst aufgegeben. Auch die Münchner müssen erkennen: Die Reichsbürger haben ein geschlossenes Weltbild geschaffen, das sich effizient gegen Recht und Demokratie richtet.
So wie Batic und Leitmayr im Film werden auch echte Polizeibeamte im Umgang mit Reichsbürgern angewiesen, sich auf keine Provokationen einzulassen und das Gesetz schnörkellos durchzusetzen. Dass Nüchternbleiben trotz permanenter Provokation und Paragrafendreherei nicht so einfach ist, müssen die Münchner Kommissare während ihres „out of area“Einsatzes schmerzlich feststellen. Vor der Fahrt nach Traitach fragt Leitmayr seinen Kollegen Batic: „Wir zwei jenseits der S-Bahn. Wann war’n mir des schon einmal?“
Regisseur Andreas Kleinert steigt in diesen „Tatort“ein – mit intensivem Stimmengewirr eines improvisierten Call Centers. Hier werden Wutbürger, Verschwörungstheoretiker und andere Enttäuschte beraten, wie man sich effektiv gegen den Staat wehrt. So kommt der Zuschauer rasch in den „Genuss“des Verführungspotenzials des kruden Reichsbürger-Gedankenguts.
Wie der Film und sein exzellentes Schauspieler-Ensemble die Demaskierung eines gesellschaftlichen Zeitphänomens betreiben, ohne dabei in ein politisches Lehrstück zu verfallen, ist herausragend konzipiert und subtil erzählt.
Dieser „Tatort“betreibt die öffentlich-rechtliche Aufarbeitung des Themas vorbildlich: investigativ, aber auch mit künstlerischer Note. Wenn Kommissar Leitmayr und der alte Alois auf dem Steg eines hochsommerlichen Sees über Wahrheit diskutieren, ist das nicht nur verständliche wissenschaftliche Philosophie, sondern es macht auch einfach Spaß. Wie das kühle Bier, mit dem die Protagonisten ihre verschwitzten Münder kühlen. Eine achtsame Demokratie hat auch mit Intelligenz und Sinnlichkeit zu tun.
Die Freiländer schirmen sich mit einem imposanten Zaun ab, der auch in den Köpfen existiert. Der polizeiliche Status der Ermittler aus München gilt nichts. Der zuständige Staatsanwalt hat schon lang resigniert und der Leiter der Traitacher PolizeiDienststelle Mooser verweist auf die bereits angesammelten Aktenberge zu Anzeigen wegen Hausfriedensbruch, Beamtenbeleidigungen und Dienstaufsichtsbeschwerden. Er will keine weiteren Scherereien! Er hält sich lieber heraus und isst im „Alten Eber“seinen mittäglichen Schweinsbraten.