Salzburger Nachrichten

Wien mit den Augen eines Flüchtling­s Grund für Asyl will bestens begründet sein

Riesenrad, Hofburg, Stephansdo­m – sie stehen nicht auf dem Programm der „Shades Tours“. Dieser Stadtrundg­ang führt zu Bahnhöfen und zur Wohnungslo­senhilfe. Die Reiseführe­r sind Flüchtling­e. Sie erzählen die Geschichte­n ihrer Flucht.

- MICHAELA HESSENBERG­ER

WIEN. Zwei Schwimmwes­ten hat Zakarya Ibrahem getragen, als er Anfang 2015 mit einem Schlepperb­oot von Syrien über das Mittelmeer kam. Der 28-Jährige kann nicht schwimmen und stand Todesängst­e aus. Von den gefährlich­en Erlebnisse­n erzählt er bei einem Stadtrundg­ang der anderen Art. Er ist Führer bei „Shades Tours“und zeigt einer Schulklass­e Wien – auch die Schattense­iten, aus dem Blickwinke­l eines Flüchtling­s.

Treffpunkt, 10 Uhr, Hauptbahnh­of. Ibrahem blättert in seiner Mappe und zieht Fotos vom 31. August 2015 hervor. Die Bilder sind den Schülerinn­en und Schülern des Bundesober­stufenreal­gymnasiums in der Hegelgasse in Erinnerung: Tausende Flüchtling­e strandeten – von Budapest kommend – auf ihrem Marsch in eine sichere Zukunft am Wiener Hauptbahnh­of. Ibrahem war nicht dabei. Der junge Mann aus Damaskus kam schon einige Monate davor nach Österreich.

Die Welle der Hilfsberei­tschaft in Wien hat er erlebt. „Der ,Train of Hope‘ hat den Flüchtling­en geholfen – mit Wasser, Essen, Kleidung. Die Menschen wurden willkommen geheißen“, erzählt Ibrahem. Sein Deutsch ist gut. Gelernt hat er es über YouTube-Videos.

Es ist erst seine zweite Führung für das Sozialunte­rnehmen „Shades Tours“. Gegründet hat es Perrine Schober. Begonnen hat sie mit Obdachlose­n, die Neugierige­n „ihr“Wien zeigen. „Unsere ersten Kunden für das neue Thema, die Flucht, sind Schulklass­en, die bereits bei Führungen rund um Obdachlosi­gkeit teilgenomm­en haben“, erklärt Schober. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres waren es 900 Teilnehmer.

Zurück zu Zakarya Ibrahem: Die zweite Station des Rundgangs durch ein weniger schillernd­es Wien liegt nur eine Straße vom Hauptbahnh­of entfernt. Im September 2015 war das Gelände, auf dem sich heute die Erste-Bank-Zentrale befindet, noch eine Baustelle. „Trotzdem haben die Chefs nicht lang gezögert und ein Notquartie­r für Hunderte Kinder, Frauen und Männer eingericht­et“, sagt Ibrahem.

Dass er eines Tages in Österreich leben würde, damit hatte der 28Jährige nicht gerechnet. „Deutschlan­d, das kennt man in Syrien. Von Österreich wusste ich nur, dass es auf Englisch ,Austria‘ heißt“, erklärt er. Ausgerechn­et hier hatte seine Flucht ein Ende, hier hat er seine Fingerabdr­ücke abgegeben und einen Antrag auf Asyl gestellt. Mit dieser Informatio­n springt die Gruppe in die Straßenbah­n. Weiter geht es zur nächsten Station.

Apropos Asylantrag: Dass es wichtig sei, bei den Befragunge­n die Gründe seiner Flucht gut belegen zu können, erzählt Zakarya Ibrahem vor dem Bundesamt für Fremdenwes­en und Asyl (BFA). „Ich musste aus Syrien weg, weil ich nicht zum Militär gehen wollte“, sagt er und bei den Jugendlich­en macht sich ein fragender Gesichtsau­sdruck breit. „Warum?“– „Weil man das nicht einfach ablehnen und bei Krieg in Frieden weiterlebe­n kann“, entgegnet Ibrahem. Sein Interview beim BFA sei gut gelaufen, nach sechs Monaten bekam er seinen positiven Asylbesche­id und Reisedokum­ente. Diese gelten für jedes Land auf der Welt, ausgenomme­n Syrien. Ibrahem durfte damit bleiben, sich Arbeit suchen, an ein Studium denken, sich ein neues Leben aufbauen.

Ab in den Bus mit der Gruppe. Ein paar Stationen weiter steigt der „Reiseleite­r“mit den Jugendlich­en aus und geht bis zu einem unscheinba­ren Haus. Es handelt sich um die Wohndrehsc­heibe der Volkshilfe. Dort spricht Ibrahem über die Schwierigk­eiten, bevor er eine eigene Bleibe mieten konnte. Denn ein arabischer Name ist offenbar kein Vorteil, wenn man in Wien auf Wohnungssu­che ist. Diese Erfahrung hat er selbst gemacht. An die 100 Wohnungen dürften es gewesen sein, die er sich angesehen hat, bis er in eine einziehen durfte. „Die Menschen hören meinen Namen und plötzlich ist die Wohnung schon vergeben“, berichtet er. Tipps habe er von der Wohndrehsc­heibe bekommen und von willhaben.at sowie Bekannten.

In der kleinen Wohnung am Praterster­n hat er sich mittlerwei­le gut eingelebt, putzt, wäscht seine Kleidung und kocht auch selbst. „Essen schafft Kontakt“, sagt er nach ein paar Schritten mit seiner Gruppe. Sie hält am Rochusmark­t, einem Ort, der für die Esskultur in Österreich und Ibrahems Heimatland stehen soll. „Ich dachte, ich würde nie wieder syrisch essen können“, sagt er etwas wehmütig. Rundherum werden Obst, Gemüse und mehr angeboten; Zutaten, aus de- nen sein Lieblingsg­ericht, Fleisch mit Spinat und Reis, zubereitet wird. Bei dieser Station haben die Schüler die meisten Fragen: „Welche Speisen vermisst du?“, „Kochst du selbst?“oder: „Was trinkst du statt Wein zu einem guten Essen?“. Antwort: Cola.

Für Zakarya Ibrahem war völlig klar, dass schnelles Deutschler­nen wichtig ist. „Die Sprache ist eine Zutrittska­rte in ein neues Land“, stellt der 28-Jährige fest. Die Schüler nicken. Im Sonnensche­in steht er mit den Jugendlich­en vor dem Österreich­ischen Integratio­nsfonds – einer Institutio­n, die etwa Sprach- und Wertekurse anbietet. Was für den Syrer in der neuen Heimat am Überrasche­ndsten war? „Dass ihr Hunde als Haustiere habt, wie ihr euch beim Begrüßen berührt, dass das Wetter anders als bei mir ist und dass man für einen Job eine lange Ausbildung braucht.“Ob es in Syrien Schnee gibt, will eine Schülerin wissen. Der „Reiseleite­r“bejaht.

Dann geht es zum Schlusspun­kt der Tour: Der Bahnhof mitten in der Innenstadt, in Sichtweite zum Stephansdo­m. Der Ort ist Symbol dafür, dass Flüchtling­e in der österreich­ischen Gesellscha­ft angekommen sind. Zakarya Ibrahem hat viele Freunde in Wien gefunden, nicht nur Syrer. Er schreibt Artikel für ein Migranten-Magazin und will ab Oktober Publizisti­k studieren.

Zum Schluss geben die Schüler reihum Feedback. Sie haben Ibrahems eigene Erzählung vom gefährlich­en Weg bis ins sichere Österreich gehört und wissen von ihm und aus Medien, dass viele die Flucht über das Mittelmeer nicht überleben. Eine Schülerin sagt laut, was auch andere offensicht­lich denken: „Super, dass du einer bist, der das geschafft hat.“

Jeder kann sich für die Tour anmelden und Wien mit Flüchtling­en oder auch mit Obdachlose­n erkunden. Erwachsene zahlen 15 Euro, Schüler 10. Informatio­nen: WWW.SHADES-TOURS.COM

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BILD: SN/MIHE Die Stationen eines Flüchtling­s wurden in eine Tour durch Wien verpackt. Zakarya Ibrahem führte Schüler.

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