Das große Rennen
Der Mensch will besser, schöner und erfolgreicher werden. Selbstoptimierung fühlt sich nach grenzenloser Selbstbestimmung an. Doch das ist ein Irrtum.
Da läuft er, der Mensch – auf dem Bild, das diese Seite illustriert. Er rennt und hetzt, ist in Rädchen und Zeitabläufen gefangen, die Krawatte schlingt sich um seinen Hals, es könnte auch die Zunge sein, die ihm heraushängt, den Boden unter den Füßen hat er verloren. Die Augen richtet er starr auf ein Ziel. Unklar ist, ob er sich selbst antreibt oder ob er von jemandem oder etwas getrieben wird. Der erste Eindruck ist: Vergnügen und Lebensqualität sehen anders aus. Die Frage ist: Wie lange hält er das durch? Wir leben in einer Zeit, in der „konstante Veränderung als das einzig Stabile gilt und Stillstand das Schlimmste ist“, stellt der dänische Psychologe und Philosoph Svend Brinkmann fest, der mit seinem Buch „Pfeif drauf! Schluss mit dem Selbstoptimierungswahn“derzeit in den Bestsellerlisten steht. Geschwindigkeit und Veränderung seien nicht mehr Mittel zum Zeck, sondern Ziele geworden, so sagt er. Jeder Lebensbereich sei davon betroffen bis hinein in das intimste Privatleben. Das Individuum muss am Ball bleiben, es muss alles aus seinem Leben herausholen, was möglich ist, es muss seine Leistung und seinen Auftritt steigern – Performance ist das Wort dafür – und sich unaufhörlich selbst verbessern. Das Mängelwesen Mensch muss oder will sich optimieren.
Der Begriff Optimierung kommt aus der Maschinensprache. Wenn von Optimierung die Rede ist, dann denkt man für gewöhnlich an maschinell gesteuerte Abläufe: Diese lassen sich für den Ertrag optimieren, also nicht nur verbessern, sondern genauer einstellen, perfekter aufeinander abstimmen. Für den Menschen heißt dies etwa, er soll gesünder leben und dies ständig überprüfen, er soll nicht einfach nur arbeiten, sondern die Ziele des Unternehmens zu seinen eigenen machen, er soll nicht nur Hobbys haben, sondern damit seine Persönlichkeit zur Blüte bringen. Er soll das eierlegende Wollmilchschwein in der Partnerschaft, als Vater, Freund und Arbeitnehmer sein.
Arnold Retzer muss bei dieser Aufzählung schmunzeln und rückt mit einem Satz alle Ansprüche und Erwartungen zurecht. Er ist Arzt und Psychologe, gehört zu den renommiertesten Therapeuten in Deutschland und berät Unternehmen. Zudem ist er Privatdozent für Psychotherapie an der Universität Heidelberg sowie Gründer und Leiter des Systemischen Instituts Heidelberg (SIH). „Es ist ja gar nicht möglich, rund um die Uhr, sieben Tage die Woche optimal alles aus sich herauszuholen“, sagt er.
Mit einem kleinen Blick in die Geschichte kann er erklären, was Optimierung so erstrebenswert macht: „Seit dem Mittelalter, mit Renaissance und Aufklärung wurde der Mensch mit zunehmender Beschleunigung aus dem Gefängnis der Unmündigkeit entlassen. Der Schuster bleibt nicht mehr bei seinem Leisten. Der Schuster muss heute selbst etwas aus sich machen. Der Vorteil ist, dass wir uns nicht mehr so durch Geburt, Geschlecht, Klasse oder Geografie bestimmt fühlen. Wir haben eine Vorstellung von Zunahme an Verfügbarkeiten, von Zunahme an Selbstbestimmung und Autonomie. Uns wird das Recht auf Optimierung zugesprochen, sei es an Lebenszeit, Schönheit, Glück oder Sexualität.“
Das Bild auf dieser Seite lässt sich auch anders sehen: Der Mann ist konzentriert, er gibt jetzt einmal alles, um etwas zu erreichen. Zeit spielt dabei vielleicht keine Rolle. Das Ziel, das er vor Augen hat, ist alle Anstrengung wert. Er weiß, was er tun muss, damit er nicht vollkommen erschöpft zu Boden fällt.
Optimierung hat gute Seiten: Menschen, die nicht zufrieden sind mit einem bestimmten Zustand, können ihn verändern. Sie haben damit nicht zuletzt Fortschritt und Befreiung gebracht. Arnold Retzer nennt als nur ein Beispiel die Bewegung der 68er-Jahre, die das Recht auf freie Sexualität initiierte. „Das, was wir allerdings jetzt sehen, ist, dass solche Rechte in Pflichten umschlagen und dass der Druck sehr groß geworden ist. Wer heute älter wird und in der Sexualität keine Performance bringt, muss mit Schuld- und Schamgefühlen kämpfen, weil er die Erwartungen und Vorstellungen dazu nicht mehr erfüllen kann oder will. Mit Schuldgefühlen und Scham kämpfen auch Eltern, die sich nur dann als gute Eltern empfinden können, wenn sie ihre Kinder in jeder denkbaren Weise optimieren. Oft tut man allerdings damit, nebenbei bemerkt, den Kindern keinen Gefallen, denn sie müssen ihren eigenen Weg finden.“
Die Selbstoptimierung beinhaltet ein verlockendes Versprechen: Wenn der Optimierer nur genügend energisch in sich sucht und an allen Schrauben dreht, die er dort zu finden glaubt, dann, ja dann ... sind Erfolg, Glück, Liebe, Anerkennung gewiss.
Das endliche Leben und die faktische Realität setzen der Optimierung allerdings Grenzen, sagt Arnold Retzer, „wir haben ja gar nicht genügend Zeit, das Optimum herauszuholen. Nur den Vorstellungen davon sind keine Grenzen gesetzt. Es wäre aber vernünftig, reale Begrenztheiten zu akzeptieren und sich zu fragen, wer bin ich nicht. Das hilft, aus dem Rennen auszusteigen oder sich zumindest bewusst zu machen, was persönlich mehr Lebensqualität bringt. Vorübergehend kann Optimierung zur Lebensqualität etwas beitragen, aber auf Dauer stellen sich meist leidvolle Nebenwirkungen ein.“
Für Vernunft plädiert auch der dänische Psychologe Svend Brinkmann. Er hält insgesamt die permanente Selbstbespiegelung, die ständige Frage, „wer oder was ist mein Selbst, was will es mir sagen und wo kann ich es verbessern“, für vollkommen nutzlos – abgesehen davon, dass niemand wisse, was ein Selbst überhaupt sein solle. 40 Jahre Nabelschau hätten uns nicht weitergebracht, so sein Fazit. Die Idee der Selbstverwirklichung, aus der die Selbstoptimierung schöpft, sei zuletzt in den 60er-Jahren gegen die starren sozialen Normen befreiend gewesen. Heute stehe sie im Dienst einer allumfassenden Leistungsund Konsumgesellschaft, in der der allzeit flexible, veränderliche Mensch mit niemals endendem Verbesserungswillen als Ideal propagiert werde. Gelinge es ihm nicht, das zu erfüllen, sei er selbst schuld daran. Das Motto lautet: Man ist niemals gut genug. Svend Brinkmann lädt dazu ein, Widerstand zu leisten.
Arnold Retzer fragt, ob es nicht an der Zeit sei, sich über das Menschenbild ernsthaft Gedanken zu machen: „Menschen sehen sich mehr und mehr als Ausgangsmaterial, als eine Maschine, die keine Fehler hat, die man tunt und programmiert. Wir haben möglicherweise schon ein Menschenbild, das maschinenähnlich ist.“Die Fragen für ihn sind: Was helfen ein solches Denken und das daraus abgeleitete Handeln? Macht es jemanden menschlicher und die Welt zu einem humaneren Ort?
Arnold Retzer: „Miese Stimmung. Eine Streitschrift gegen positives Denken“, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. Svend Brinkmann: „Pfeif drauf! Schluss mit dem Selbstoptimierungswahn“, Knaur Verlag, München.
Der Vernünftige berücksichtigt, dass das Leben stets ein Veto einlegt. Arnold Retzer, Arzt und Psychologe