Nahost Sprengstoff aus
Der islamische Judenhass ist viel älter als der 1948 gegründete Staat Israel. Das sagt der international bekannte Islam-Experte Bassam Tibi.
In 19 von 22 arabischen Staaten hat er selbst geforscht. Bassam Tibi ist viele Jahre lang Professor für Internationale Politik an der Universität Göttingen und an der HarvardUniversität in Boston (USA) gewesen. Eines seiner vielen Bücher heißt „Die Verschwörung“und handelt vom „Trauma arabischer Politik“(1993). In seiner jüngsten Publikation äußert sich Tibi kritisch über die „Islamische Zuwanderung und ihre Folgen“(ibidem Verlag, Stuttgart 2018).
SN: Ein neuer Antisemitismus verbreite sich in Europa, heißt es alarmiert, nämlich ein muslimischer Antisemitismus. Können Sie diesen Eindruck bestätigen?
Bassam Tibi: Der Antisemitismus ist eine neue Erscheinung in der islamischen Welt. Er ist am Anfang des 20. Jahrhunderts parallel zum Islamismus entstanden. Islamismus ist nicht gleich Islam; er meint vielmehr eine politische Interpretation des Islams, also eine politische Ideologie. Der neue, muslimische Antisemitismus kommt aus dem Nahen Osten. Er gelangt jetzt mit der Migrationsbewegung nach Europa.
SN: Der Islam-Historiker Bernard Lewis verweist darauf, dass es Judenhass in der islamischen Geschichte immer gegeben habe. Bedeutet Antisemitismus folglich etwas anderes?
Wir sollten hier wie die Philosophin Hannah Arendt unterscheiden zwischen Judenhass und Antisemitismus. Judenhass ist ein Vorurteil über die Juden, ein Rassismus. Antisemitismus ist mehr als Judenhass, nämlich eine Genozid-Ideologie. Antisemiten sagen: Juden sind ein Übel, und zwar ein Übel für die ganze Welt; deshalb sollten sie vernichtet werden. Das haben die deutschen Nazis getan.
SN: Gilt denn die Einstellung einer massiven Judenfeindschaft generell für die islamische Welt mit 1,5 Milliarden Menschen?
Die Welt des Islams ist sehr groß; sie umfasst 57 Staaten, vom Senegal in Westafrika bis Indonesien in Südostasien. Der Senegal ist islamisch, aber es gibt dort keinen Antisemitismus. Auch im überwiegend muslimischen Indonesien gibt es so gut wie keinen Antisemitismus. In Ägypten hingegen hat sich der Antisemitismus in den vergangenen 15 Jahren nach meinen Beobachtungen sehr verstärkt. In der Türkei, die islamisch, aber nicht arabisch ist, habe ich mehr Antisemitismus gefunden als in manchen arabischen Ländern. Das heißt: Vor allem im arabischen Teil des Nahen Ostens sowie in der Türkei und im Iran ist der Antisemitismus sehr virulent.
Innerhalb der arabischen Staaten sehen wir eine Ausnahme: Marokko hat eine jüdische Gemeinde, die in Frieden lebt. In diesem Land können sich die Juden sicher fühlen, weil der jetzige König Mohammed VI. wie sein Vater sagt: Wer die Juden angreift, greift die Krone an.
SN: Wie stark ist denn die Judenfeindschaft in den muslimischen Kulturen des Nahen Ostens ausgeprägt?
Am besten fange ich mit meiner eigenen Biografie an: Ich bin 1944 in Damaskus (Syrien) geboren und auch dort aufgewachsen. Als militanter Antisemit bin ich nach Deutschland gekommen. Mein Glück war, dass ich bei zwei großen jüdischen Gelehrten – Theodor W. Adorno und Max Horkheimer – studiert habe. In Frankfurt bin ich selbst vom Antisemitismus befreit worden.
In der Schule in Syrien aber hatte ich gelernt, dass die Juden die Feinde des Islams seien; dass sie den Islam vernichten wollten. In meiner Schulzeit war mir eingetrichtert worden, dass der Islam seit seinem Ursprung im 7. Jahrhundert mit einer jüdischen Verschwörung konfrontiert sei. Die „Protokolle der Weisen von Zion“, die dieses Verschwörungsdenken ausbreiten, habe ich in Damaskus auf Arabisch gelesen.
SN: Können sich jene, die Judenfeindschaft propagieren, auch auf den Koran berufen?
Es gibt im Koran positive und negative Äußerungen über die Juden. Die Heilige Schrift der Muslime ist in dieser Hinsicht widersprüchlich. Als der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat 1977 zu seinem Überraschungsbesuch nach Israel kam, hielt er in Jerusalem eine Rede, die derart viele positive Aussagen über Juden enthielt, dass er sagen konnte: „Ich erfülle hier den Auftrag des Korans und reiche Ihnen die Hand zum Frieden.“Aber es finden sich im Koran auch ganz gegenteilige Aussagen. Es gibt hier sowohl judenfreundliche als auch judenfeindliche Bemerkungen.
SN: Immer wieder heißt es, der Judenhass vieler Muslime sei in erster Linie auf den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern zurückzuführen. Selbst der israelische Politologe David Ranan stellt in einer neuen Studie fest: „Sie sagen Jude und meinen Israeli.“Geht es also vielen primär um eine Kritik an der Politik Israels, wenngleich in verzerrter Form?
Das ist falsch. Der islamische Judenhass ist viel älter als die Gründung des Staates Israel 1948. Die Iraner sagen häufig: Wir sind gegen den Zionismus (also die Bestrebungen, einen jüdischen Staat zu schaffen), aber nicht gegen die Juden. Im Arabischen und im Türkischen aber sind die beiden Begriffe Jude und Zionist Synonyme. Im alltäglichen Sprachgebrauch, auch in den Zeitungen und in den Medien überhaupt bedeuten sie dasselbe. Das heißt: Selbst wenn der israelisch-palästinensische Konflikt gelöst werden sollte – was in diesem Moment als unmöglich erscheint –, wird der Judenhass in der islamischen Welt nicht verschwinden.
SN: Wenn es stimmt, dass Flüchtlinge und Migranten einen muslimischen Antisemitismus nach Europa bringen, was könnte dagegen getan werden?
Man kann Antisemitismus nicht verbieten. Mit Verboten lässt sich hier nichts erreichen. Man kann ein solches Phänomen auch nicht autoritär bekämpfen. Man muss versuchen, durch Erziehung und Aufklärung dagegen Front zu machen. Es muss also in Deutschland oder Österreich Integrationskurse geben, in welchen die zugewanderten Muslime über die Stereotype des Antisemitismus aufgeklärt werden.
SN: Was sagt der importierte muslimische Antisemitismus über den Zustand unserer Integrationspolitik aus?
Die Integrationspolitik ist gescheitert. Eine richtige, systematische Integrationspolitik mit entsprechenden erzieherischen Maßnahmen hat es hierzulande nie gegeben. Viele Leute in Deutschland oder Österreich verstehen unter Integration, dass die zugewanderten Muslime eine Wohnung bekommen, einen Beruf erlernen und eine Arbeit aufnehmen. Ich selbst habe seit Jahrzehnten die Idee eines europäischen Islams vertreten. Ein Muslim ist demnach dann integriert in Europa, wenn er es schafft, beides zu sein – Europäer und Muslim, so dass er sagt: Ich bin Europäer islamischen Glaubens und ein Teil der hiesigen Gesellschaft. Das bedeutet ein Gefühl der Zugehörigkeit.
Nach meinen eigenen Erfahrungen ist Deutschland ein Einwanderungsland, aber kein Integrationsland. Deutschland akzeptiert Immigranten oft nicht als Deutsche. Sie können deshalb Deutschland vielfach nicht als Heimat, als Identität begreifen. Die Verweigerung der Integration kommt nicht nur von muslimischen Zuwanderern. Vielmehr sind die europäischen Gesellschaften nicht in der Lage, die zugewanderten Muslime in dem Sinne zu integrieren, dass sie eine europäische Identität bekommen.
SN: Sind damit auch Ihre Hoffnungen auf einen Euro-Islam gescheitert?
Nein, ich glaube noch immer daran. Es ist die Vision einer europäischen Interpretation, einer Europäisierung des Islams. Die Idee ist richtig. Doch ihre Verwirklichung ist vorerst an der Machtfrage gescheitert: Macht haben die Verbände des Islams. Mit den in ihnen organisierten Muslimen arbeitet zum Beispiel der deutsche Staat zusammen. Sie sind aber schriftgläubige Muslime, Salafisten, Islamisten. Sie wollen gar keine Europäer werden. Marginalisiert werden dagegen die liberalen Muslime.
Eine systematische Integrationspolitik hat es in Europa nie gegeben. Bassam Tibi, Islam-Experte