Was uns berührt
Die Liebe, das Kind, die Natur, die Kunst oder die Cola-Flasche im Museum: Solche Erfahrungen können uns im Inneren berühren und verwandeln.
Wir leben die Idee, durch Beschleunigung vor dem Tod davonzulaufen. Hartmut Rosa, Soziologe
Hartmut Rosa hat mit „Resonanz“einen maßgeblichen Begriff dafür geprägt, wie wir berührt werden und selbst andere berühren können. Im SN-Gespräch anlässlich der Goldegger Dialoge erläutert der Soziologe, wie wir uns dieser Weltbeziehung öffnen und selbstwirksam werden können.
SN: Herr Professor Rosa, welche Haltung braucht es, um mit der Welt in Resonanz, in Berührung zu kommen? Rosa:
Welt bedeutet zunächst alles, was uns begegnen kann: Menschen, Dinge, die Natur, das Leben, das Universum. Auch unser eigener Körper, unsere eigenen Gefühle begegnen uns. Häufig nehmen wir dazu eine verdinglichte Haltung ein. Ich nenne das stumme Weltbeziehung. Wir benutzen Sachen, wir versuchen sie zu optimieren oder uns anzueignen. Aber gelegentlich kommen wir mit etwas in Kontakt und erfahren eine Begegnung, die uns berührt, die Bedeutung hat und auf die wir antworten können, sodass wir uns in diesem Antworten als selbstwirksam erfahren.
Genau in diesem Moment erfahren wir eine Verwandlung. Wir fühlen uns lebendig, sobald der Panzer der Verdinglichung durchbrochen wird. Wo wir nicht eine Aufgabenliste abarbeiten, sondern berührt werden und uns berühren lassen, sind wir hinterher anders gestimmt und haben vielleicht sogar unser Weltverhältnis verändert.
SN: Ihr Thema bei den Goldegger Dialogen heißt, warum wir auf Berge steigen und ins Museum gehen. Sind das solche Orte der Berührung?
Resonanzbeziehungen haben wir häufig zu anderen Menschen. Wir stellen uns Liebe als Erfahrung vor, dass uns jemand wirklich meint und berührt. Das kann in der Intimbeziehung sein, aber auch in Eltern-KindBeziehungen und in Freundschaften, sogar im politischen Kontext. Das ist die horizontale oder soziale Weltbeziehung.
Eine zweite Resonanzachse nenne ich die materiale Resonanzachse. Dabei geht es um Dinge, z. B. wenn wir uns in der Arbeit an einem Objekt abarbeiten, sei es konkret, wie sich der Bäcker am Teig abarbeitet, oder abstrakt, wie der Schriftsteller am Text.
Eine dritte Resonanzachse, die ich die vertikale oder existenzielle nenne, sind Natur oder Kultur. Hier stehen wir, mit Karl Jaspers gesprochen, mit dem Umgreifenden in Verbindung. Das muss nicht unbedingt etwas Religiöses oder Transzendentes sein. Aber es ist das, was uns im Urgrund unseres Daseins mit der Welt verbindet.
Menschen gehen in die Berge. Sie sagen, ich muss da hinauf, um mich selbst zu spüren. Dabei eröffnet sich eine Resonanzachse zwischen ihrem Inneren und einer atmenden Begegnung mit der antwortenden Welt draußen. Ich werde innerlich berührt, und gleichzeitig erstreckt sich das nach außen, indem ich mich beim Wandern als selbstwirksam erfahre. Durch die Weite draußen öffnet sich ein Feld nach innen. Dadurch entsteht zwischen meinem Inneren und dem Draußen eine Resonanzachse. Ähnlich ist es im Konzertsaal, wo ich die Erfahrung machen kann, die Musik berührt mich ganz drinnen, obwohl sie von außen kommt.
SN: Wie sprechen Museen, die in jüngerer Zeit wie Pilze aus dem Boden schießen, das Innere an?
Menschen gehen ins Museum, weil sie mit den Dingen, den Objekten auf eine Weise in Berührung kommen wollen, die nicht die instrumentelle Alltagserfahrung ist. Sie gehen ins Museum, weil sie von Objekten, die auch alltäglich sein können, in einer unbekannten Weise berührt werden möchten.
Man kann sich eine Cola-Flasche vorstellen, der ich im Alltag im Modus der Verdinglichung begegne. Ich weiß, welchen Nutzen sie hat, und wenn sie leer ist, werfe ich sie weg. Begegnet mir aber die gleiche Flasche im Museum in einer Vitrine, warte und lausche ich darauf, was mir dieses Ding vielleicht noch sagt. Ob es mich in einer neuen Weise ansprechen kann.
Dabei kommt aber ein Element der Unverfügbarkeit ins Spiel. Ich weiß nicht, ob und wann sich dieses Resonanzgefühl einstellt, und ich weiß nicht, was dabei herauskommt. Wenn wir ins Museum gehen, wissen wir nicht von vornherein, ob wir dort mit irgendeinem Gegenstand oder einem Bild in Resonanz treten werden. Oft passiert auch nichts dergleichen.
SN: Sie sprechen von einer OdysseusStrategie. Heißt das, ich muss mich bewusst Erfahrungen aussetzen, die Resonanz möglich machen?
Es geht tatsächlich mit einer gewaltigen Anstrengung einher, aus unserem alltäglichen Optimierungs- und Steigerungsmodus hinauszutreten. Wir leben immer in einer Haltung des Erreichens. Wenn ich unter Zeitdruck stehe, wenn ich von Konkurrenz bestimmt oder von Angst getrieben bin, ist es wichtig, dass ich mich unberührbar mache und mich verschließe vor allen Anrufungen, die mich erreichten könnten. Wir haben es bei dieser Verschließung vor der Resonanz, vor der Berührbarkeit, mit einem strukturellen Problem unserer Gesellschaft zu tun. Wir müssen uns also in eine Lage bringen, in der wir überhaupt empfänglich werden für den Anruf. Da brauchen wir – wie Odysseus bei den Sirenen – ein Moment der Selbstfesselung, indem wir gezielt Zeiten und Räume schaffen.
SN: Sie sagen, dass wir uns diesen Druck auch selbst machen, weil wir die Lebenszeit, die wir haben, unbedingt bis zum Rand auskosten wollen.
Ich habe das in meinem BeschleunigungsBuch den kulturellen Motor der Beschleunigung genannt. In der säkularen Gesellschaft spielt die Heilsorientierung nur noch eine untergeordnete Rolle. Die bewusste und unbewusste Lebensorientierung gilt dem Diesseits. Daher ist Beschleunigung so etwas wie eine Antwort auf das Problem des Todes geworden. Wir wissen, eines Tages muss ich sterben, aber vorher will ich noch ganz viel tun. Wir wissen, dass der Tod uns daran hindert, die Welt in ihrer Gesamtheit auszukosten und alle unsere Anlagen und Erfahrungsmöglichkeiten zu entwickeln.
Ein Teil unseres atemlosen In-der-WeltSeins ist daher die Idee, durch Beschleunigung vor dem Tod davonzulaufen. Wenn wir schneller werden, können wir unseren Anteil an Welterfahrung erhöhen. Werden wir doppelt so schnell, können wir zwei Leben in einem haben. Werden wir unendlich schnell, können wir unendlich viele Leben – das ewige Leben – vor dem Tod haben.
Hartmut Rosa ist Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und seit 2013 zugleich Direktor des Max-WeberKollegs an der Universität Erfurt. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“(2016) und „Beschleunigung. Die Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne“(2005).
Bei den Goldegger Dialogen hält Prof. Rosa heute, Samstag, 16.30 Uhr, den Abschlussvortrag: „Berühren und berührt werden. Warum wir auf Berge steigen und in Museen gehen“.