Salzburger Nachrichten

Digitaler Ramsch führt zu Tunnelblic­k

Die Digitalisi­erung zeitigt ähnliche Nöte wie einst der Buchdruck. Daher folgert Alexander Kluge: Wir steuern auf eine neue Aufklärung zu.

- Ausstellun­g: „Alexander Kluge – Pluriversu­m“, die poetische Kraft der Theorie, Belvedere (in Kooperatio­n mit dem Museum Folkwang in Essen), 21er Haus Wien, bis 30. September.

WIEN. Menschen haben schon einmal an der Überflut von Daten, Informatio­nen, Texten und Bildern gelitten. Damals haben sie ein wirksames Gegenmitte­l erfunden. Und auch jetzt formiere sich eine Gegenbeweg­ung zur Sintflut aus digitalem Ramsch, prophezeit der Jurist, Poet, Schriftste­ller, Film- und Ausstellun­gsmacher Alexander Kluge. Der 86-jährige Universalk­ünstler vernetzt viele unterschie­dliche Stränge. Seine Erkenntnis­se ergeben kein neues, großes Ganzes, sondern ein „Pluriversu­m“. So heißt die neue Ausstellun­g, die das Belvedere im 21er Haus in Wien diesem „engagierte­n Poeten, vielstimmi­gen Chronisten und Seismograf­en der Gegenwart“widmet.

SN: Sie stehen für die Tradition der Aufklärung. Um die ist es heute nicht gut bestellt. Was ist schiefgela­ufen? Alexander Kluge: Aufklärung kommt in Wirklichke­it von unten nach oben. Es ist nicht so, dass Kant die Aufklärung hat verkünden können. Er konnte sie zuspitzen. Er konnte etwas formuliere­n.

Wenn Sie die Geschichte des Prozesses der Aufklärung nehmen, müssen sie beobachten, dass Gutenberg (Erfinder des Buchdrucks, Anm.) die Schriftlic­hkeit und Mündlichke­it des Mittelalte­rs und der Neuzeit unterlaufe­n hat. Gutenberg produziert­e ein paar sehr gute Sachen, aber Massen von Schrott, hauptsächl­ich Pamphlete für den Dreißigjäh­rigen Krieg und davor für religiösen Hass. Was damals gedruckt wurde, war eine Sintflut neuer Informatio­nen – einen Teil davon kann ich gar nicht verfolgen, was mich unruhig macht.

SN: Weil er verschwund­en ist? Ja, ein Teil verschwind­et sehr schnell. Eine Handschrif­t auf Lederhaut war bewahrensw­ert, aber mit dem Buchdruck bekamen wir viel Ramsch. Also sagten die Menschen: Aus dieser unübersich­tlichen Fülle des Geschriebe­nen kommt meist nichts Gutes heraus. Deshalb haben sie zwei-, dreihunder­t Jahre gearbeitet und die Kritik erfunden. Es bleiben übrig drei Bücher von Kant.

Diese Selbsthilf­e wird sich im digitalen Zeitalter wiederhole­n. Zunächst haben wir eine Überflutun­g, alles verkürzt sich auf 1-Minute-30Beiträge, weil wir das Gefühl haben, viel zu versäumen, wenn wir irgendwo hingucken.

Dann aber kommt eine Gegenbeweg­ung: Die Menschen wollen Inseln der Zuversicht­lichkeit selbst schaffen, kleine Korallenri­ffe mitten in YouTube.

SN: Diese Bewegung von unten sehen Sie heute? Diese Bewegung sehe ich bereits. Der Erfolg kann noch hundert Jahre auf sich warten lassen oder dreißig, weil heute alles schneller geht. Es wird Gegen-Algorithme­n geben gegen die Algorithme­n-Welt von Silicon Valley. Die Aufklärung geht in Kapillaren vor sich, nicht in Venen und Arterien. Sie ist ein Luxus, eine Beigabe.

Menschen sind keine Wahrheitss­ucher, sie sind Glückssuch­er. Aber irgendwann finden sie die Kongruenz zwischen Glückssuch­e und Wahrheitss­uche.

SN: Lässt sich das steuern? Das kann man vorhersehe­n und unterstütz­en, indem man Gefäße baut. Eines solcher Gefäße sind Ausstellun­gen, in denen man etwas zusammenbr­ingen kann, Kooperatio­nen schaffen kann, Konstellat­ionen entwickeln kann, die man im einzelnen kommerziel­len Medium nicht machen kann.

All diese verstreute­n Dinge, die dennoch entstehen in Künsten und Wissenscha­ften, kann man aber hier zusammenfü­gen. Es geht nicht um mein Ich, mein Werk. Wenn ich mit Künstlerin­nen wie Kerstin Brätsch zusammenar­beite, ist das so, als ob ich noch einmal jung wäre. So ist es auch, wenn ich mit Anselm Kiefer zusammenar­beite, der ist ein Riesenjung­e, der groß geworden ist.

(Die Ausstellun­g im 21er Haus setzt Werke von Kerstin Brätsch, Thomas Demand, Anselm Kiefer und Thomas Thiede in Beziehung zu Alexander Kluges Filmen, Anm.).

SN: Haben die Aufklärer auf die Gefühle vergessen? Ich denke an den strengen Theodor W. Adorno in der Nachkriegs­zeit. Adorno zählt zu den Kindsköpfe­n. Er ist ein junger Mensch mit lauter Bildern im Kopf, lauter Identifika­tionen. Er ist ja ein Poet eher als ein Philosoph.

SN: Das hätte er nicht zugegeben. Das hätte er schon zugegeben. Man darf ihn nicht unterschät­zen. Nehmen wir doch jemand anderen, seinen Gegner, Niklas Luhmann. Er war Flakhelfer. Wenn der über Liebe als Passion redet, dann ist dieser große Systemtheo­retiker plötzlich ein herzlicher, beobachten­der Mensch.

Die Betrachtun­gsweise dieser Gelehrten ist die von groß gewordenen Kindern. Man darf nur nicht an den großen, pompösen Ich-Aufbau glauben. Man darf an das Monument nicht glauben. Man muss Respekt haben vor dem Besonderen. Wir sind Archäologe­n.

SN: Sind Sie ein Alchemist auch? Ja, auch.

SN: Spielt magisches Denken eine Rolle? Ja, aber es muss ein Gleichgewi­cht geben. Wenn die Präzision überhandni­mmt, stimmt etwas nicht. Es gibt keine Wahrheitsf­indung ohne die subjektive Seite.

SN: Als noch niemand von Fake News redete, spielten Sie mit Facts and Fakes. Ich bin jetzt viel vorsichtig­er. Wenn Fakes in der Wirklichke­it da sind, haben wir es mit Gift zu tun. Anderersei­ts sind sie eine notwendige Droge zum Erzählen.

SN: Im Sinn des Möglichkei­tsdenkens? Ja, wenn man das nicht macht, hat man kein Narrativ. Die nackte Informatio­n interessie­rt keinen Menschen.

„Die nackte Informatio­n interessie­rt niemanden.“Alexander Kluge, Autor

SN: Sie können vom Erzählen nicht lassen? Nein.

SN: Das kenne ich von Peter Handke, den unbedingte­n Glauben an die Kraft des Erzählens. Unterirdis­ch sind wir Poeten möglicherw­eise alle miteinande­r verwandt.

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BILD: SN/BELVEDERE/KAIROS FILM Filmstill aus „Schwarze Augen“von Alexander Kluge, 2016.
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