Digitaler Ramsch führt zu Tunnelblick
Die Digitalisierung zeitigt ähnliche Nöte wie einst der Buchdruck. Daher folgert Alexander Kluge: Wir steuern auf eine neue Aufklärung zu.
WIEN. Menschen haben schon einmal an der Überflut von Daten, Informationen, Texten und Bildern gelitten. Damals haben sie ein wirksames Gegenmittel erfunden. Und auch jetzt formiere sich eine Gegenbewegung zur Sintflut aus digitalem Ramsch, prophezeit der Jurist, Poet, Schriftsteller, Film- und Ausstellungsmacher Alexander Kluge. Der 86-jährige Universalkünstler vernetzt viele unterschiedliche Stränge. Seine Erkenntnisse ergeben kein neues, großes Ganzes, sondern ein „Pluriversum“. So heißt die neue Ausstellung, die das Belvedere im 21er Haus in Wien diesem „engagierten Poeten, vielstimmigen Chronisten und Seismografen der Gegenwart“widmet.
SN: Sie stehen für die Tradition der Aufklärung. Um die ist es heute nicht gut bestellt. Was ist schiefgelaufen? Alexander Kluge: Aufklärung kommt in Wirklichkeit von unten nach oben. Es ist nicht so, dass Kant die Aufklärung hat verkünden können. Er konnte sie zuspitzen. Er konnte etwas formulieren.
Wenn Sie die Geschichte des Prozesses der Aufklärung nehmen, müssen sie beobachten, dass Gutenberg (Erfinder des Buchdrucks, Anm.) die Schriftlichkeit und Mündlichkeit des Mittelalters und der Neuzeit unterlaufen hat. Gutenberg produzierte ein paar sehr gute Sachen, aber Massen von Schrott, hauptsächlich Pamphlete für den Dreißigjährigen Krieg und davor für religiösen Hass. Was damals gedruckt wurde, war eine Sintflut neuer Informationen – einen Teil davon kann ich gar nicht verfolgen, was mich unruhig macht.
SN: Weil er verschwunden ist? Ja, ein Teil verschwindet sehr schnell. Eine Handschrift auf Lederhaut war bewahrenswert, aber mit dem Buchdruck bekamen wir viel Ramsch. Also sagten die Menschen: Aus dieser unübersichtlichen Fülle des Geschriebenen kommt meist nichts Gutes heraus. Deshalb haben sie zwei-, dreihundert Jahre gearbeitet und die Kritik erfunden. Es bleiben übrig drei Bücher von Kant.
Diese Selbsthilfe wird sich im digitalen Zeitalter wiederholen. Zunächst haben wir eine Überflutung, alles verkürzt sich auf 1-Minute-30Beiträge, weil wir das Gefühl haben, viel zu versäumen, wenn wir irgendwo hingucken.
Dann aber kommt eine Gegenbewegung: Die Menschen wollen Inseln der Zuversichtlichkeit selbst schaffen, kleine Korallenriffe mitten in YouTube.
SN: Diese Bewegung von unten sehen Sie heute? Diese Bewegung sehe ich bereits. Der Erfolg kann noch hundert Jahre auf sich warten lassen oder dreißig, weil heute alles schneller geht. Es wird Gegen-Algorithmen geben gegen die Algorithmen-Welt von Silicon Valley. Die Aufklärung geht in Kapillaren vor sich, nicht in Venen und Arterien. Sie ist ein Luxus, eine Beigabe.
Menschen sind keine Wahrheitssucher, sie sind Glückssucher. Aber irgendwann finden sie die Kongruenz zwischen Glückssuche und Wahrheitssuche.
SN: Lässt sich das steuern? Das kann man vorhersehen und unterstützen, indem man Gefäße baut. Eines solcher Gefäße sind Ausstellungen, in denen man etwas zusammenbringen kann, Kooperationen schaffen kann, Konstellationen entwickeln kann, die man im einzelnen kommerziellen Medium nicht machen kann.
All diese verstreuten Dinge, die dennoch entstehen in Künsten und Wissenschaften, kann man aber hier zusammenfügen. Es geht nicht um mein Ich, mein Werk. Wenn ich mit Künstlerinnen wie Kerstin Brätsch zusammenarbeite, ist das so, als ob ich noch einmal jung wäre. So ist es auch, wenn ich mit Anselm Kiefer zusammenarbeite, der ist ein Riesenjunge, der groß geworden ist.
(Die Ausstellung im 21er Haus setzt Werke von Kerstin Brätsch, Thomas Demand, Anselm Kiefer und Thomas Thiede in Beziehung zu Alexander Kluges Filmen, Anm.).
SN: Haben die Aufklärer auf die Gefühle vergessen? Ich denke an den strengen Theodor W. Adorno in der Nachkriegszeit. Adorno zählt zu den Kindsköpfen. Er ist ein junger Mensch mit lauter Bildern im Kopf, lauter Identifikationen. Er ist ja ein Poet eher als ein Philosoph.
SN: Das hätte er nicht zugegeben. Das hätte er schon zugegeben. Man darf ihn nicht unterschätzen. Nehmen wir doch jemand anderen, seinen Gegner, Niklas Luhmann. Er war Flakhelfer. Wenn der über Liebe als Passion redet, dann ist dieser große Systemtheoretiker plötzlich ein herzlicher, beobachtender Mensch.
Die Betrachtungsweise dieser Gelehrten ist die von groß gewordenen Kindern. Man darf nur nicht an den großen, pompösen Ich-Aufbau glauben. Man darf an das Monument nicht glauben. Man muss Respekt haben vor dem Besonderen. Wir sind Archäologen.
SN: Sind Sie ein Alchemist auch? Ja, auch.
SN: Spielt magisches Denken eine Rolle? Ja, aber es muss ein Gleichgewicht geben. Wenn die Präzision überhandnimmt, stimmt etwas nicht. Es gibt keine Wahrheitsfindung ohne die subjektive Seite.
SN: Als noch niemand von Fake News redete, spielten Sie mit Facts and Fakes. Ich bin jetzt viel vorsichtiger. Wenn Fakes in der Wirklichkeit da sind, haben wir es mit Gift zu tun. Andererseits sind sie eine notwendige Droge zum Erzählen.
SN: Im Sinn des Möglichkeitsdenkens? Ja, wenn man das nicht macht, hat man kein Narrativ. Die nackte Information interessiert keinen Menschen.
„Die nackte Information interessiert niemanden.“Alexander Kluge, Autor
SN: Sie können vom Erzählen nicht lassen? Nein.
SN: Das kenne ich von Peter Handke, den unbedingten Glauben an die Kraft des Erzählens. Unterirdisch sind wir Poeten möglicherweise alle miteinander verwandt.