„Wie liberal sind wir wirklich?“
Der Schauspieler Edgar Selge im SN-Gespräch über die Verfilmung von Michel Houellebecqs provokantem Roman „Unterwerfung“.
Mit seinem Roman „Unterwerfung“traf der französische Schriftsteller Michel Houellebecq den Nerv der Zeit. Und das nicht nur, weil das Buch am Tag des islamistischen Terroranschlags auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“erschienen ist. Seine Dystopie handelt im Jahr 2022. In der zweiten Runde der Parlamentswahlen gewinnt der Kandidat einer islamischen Partei gegen die Rechte Marine Le Pen.
Die Hamburger Bühnenversion, ein Soloauftritt von Edgar Selge, wurde jetzt von seinem Neffen Titus Selge für die ARD verfilmt.
SN: Herr Selge, der Film beginnt damit, dass Sie auf dem Weg ins Deutsche Schauspielhaus in Hamburg bestohlen werden. Wir oft ist Ihnen das schon passiert? Edgar Selge: Noch nie. Ich lasse übrigens gern Sachen liegen und habe dann oft das Gefühl, ich sei beklaut worden. Aber es stimmt eben nicht.
SN: Gehört Michel Houellebecq zu Ihren Lieblingsschriftstellern? Seit „Ausweitung der Kampfzone“habe ich jeden Roman gelesen. Seine Bücher entspannen mich. Houellebecq stellt sich mit seiner Müdigkeit und seinen Schattenseiten ganz zur Verfügung. Es wird mir beim Lesen bewusst, wie sehr ich mich in meinem Leben anstrenge. Davon entlastet er mich in der Zeit der Lektüre. Ich habe Spaß. Das macht ihn zu einem meiner Lieblingsschriftsteller.
SN: Weil er wie kaum ein Zweiter die Stellung des Mannes in der modernen Gesellschaft reflektiert? Ich mag die Offenheit und Provokation, mit der er den Mann in seiner Beschränktheit zeigt. Ich glaube nicht, dass er selbst ein Macho ist. Er schlüpft in diese Rolle, weil sie ihm erleichtert, einen Blick auf die abendländische Kultur, die patriarchalischen Rudimente in uns und die Ernsthaftigkeit unserer Bemühungen um die Emanzipation der Frauen zu werfen. Er hinterfragt auch unsere Vorstellung von romantischer Liebe, die in der Kulturgeschichte der Menschheit relativ jung ist.
SN: Warum arbeiten Theateraufführung und die Verfilmung stärker den Zerfall der Werte der Aufklärung und die Anpassung der Eliten ans neue Patriarchat heraus als der Roman? Nun, man muss in der beschränkten Bühnenzeit Schwerpunkte setzen. Die Fassung wurde von der Dramaturgin Rita Thiele und der Regisseurin Karin Beier umgesetzt, die beide dezidiert für die Emanzipation der Frau eintreten. Ursprünglich wollten sie die Sexszenen eliminieren. Aber auf den Proben konnte ich sie überzeugen, dass Houellebecq beschädigt wird, wenn man ihm diese Art der Provokation wegnimmt.
SN: Im Film verlässt eine Frau den Theatersaal. Wie oft passiert dies? Sehr selten. Die Zuschauer wollen schon etwas aushalten.
SN: Entdecken die Menschen ihre eigene Verklemmtheit, die sie meinten, mit der sexuellen Revolution abgelegt zu haben? Das ist Teil der Frage, die Houellebecq uns allen stellt. Sind wir wirklich so liberal, wie wir gern sein wollen und uns nach außen geben? Darüber hinaus werden die Zuschauer mit ihren Phobien über unsere gesellschaftliche Situation konfrontiert. Der Angst vor Überfremdung und vor dem Verlust der vertrauten Heimat. Selbstverständlich haben wir alle ein Recht auf Heimat und Identität. Doch das Zusammenleben mit Migranten kann das Leben lebenswerter machen. Durch die Stärke der Religiosität vieler Migranten werden wir mit unserem eigenen religiösen Vakuum konfrontiert. Die meisten, die als Geflüchtete zu uns kommen, sind in dieser Hinsicht anders geerdet als wir. Das spüren wir.
SN: Macht „Unterwerfung“uns bewusst, dass die Hälfte der Bevölkerung in einem christlichen Abendland atheistisch ist? Dieser Atheismus bei uns im Westen geht nicht sehr tief. Es herrscht eher eine Lauheit oder Flauheit in der Frage nach dem Umgang mit Gott. Das wird uns auch ohne Migranten bewusst. Das totale Konsumdenken und der Turbokapitalismus machen uns im Grunde lebensmüde. Die Befriedigung materieller Bedürfnisse ist kurzfristig befriedigend, aber langfristig keine Lösung. Wenn man dahinterkommt, dass die Freiheit zu maßlosem Konsum und Egozentrismus vor allem wertvolle Lebenszeit vergeudet, ist die Depression nicht weit weg.
SN: Erschreckend ist, wie schnell sich die Eliten anpassen. Jedes autoritäre System verlangt, dass man ihm etwas opfert. Wer die Ideologie nicht bestätigt, kriegt keine Stelle und verzichtet auf den Aufstieg. Man wird wie François zum Außenseiter.
SN: Bleibt der Rückzug in eine Nische, wie sie François vielleicht vorschwebt? Die Nische existiert nur so lange, wie sie das System bestätigt. Die Sehnsucht nach sicheren Nischen ist heute wieder groß, weil sich keiner vorgestellt hat, dass die Verteidigung sozialer Rechte so endlos und fordernd ist.
SN: Sie sind nach 20 Jahren am Theater nunmehr freiberuflich, sind abhängig von Rollenangeboten. Wie gehen Sie mit dieser Ungewissheit um? Ich nehme mich nicht als gelassen wahr. Sondern als kämpfend. Meine Arbeit erfordert viel Kraft. Ein Abend wie „Unterwerfung“erfordert auch von mir totale Unterwerfung, damit etwas von der Freiheit auf der Bühne entsteht, wie ich sie mir vorstelle. Es fällt mir durch diese Belastung auch physisch und psychisch heute schwerer als vor einigen Jahren, mehrere Arbeiten nebeneinander zu machen.
SN: Das Alter erfordert Konzentration und Beschränkung? Ich stecke tief diesem Leistungssystem. Obwohl ich seit Jahren frei arbeite, bin ich in einen Stundenplan eingebunden, der mir das Gefühl gibt, dass mein Leben sehr schnell verrinnt. Ob diese Entscheidung richtig war und ideal ist, da würde ich ein Fragezeichen setzen.
Unterwerfung, heute, Mittwoch, ab 20.15 Uhr in der ARD; anschließend, 21.45 Uhr, befasst sich die Talkshow „Maischberger“mit diesem Thema.