„Die Demokratie ist in Gefahr“
Philipp Blom, Salzburgs Festspielredner 2018, sieht Europa in einer tiefen Krise. Zu viele Bürger haben den Eindruck, dass die Politik nicht mehr für sie da ist.
WIEN. Dass ein Nationalstaat seine Souveränität gegen andere wahrt und verteidigt, ob ökonomisch oder politisch, ist in den Augen von Philipp Blom heute kein sinnvoller Gedanke mehr. Der in Wien lebende Historiker verweist in einem SNGespräch darauf, dass Umweltfaktoren und Finanzbewegungen, Terrorismus und Migrationsströme globale Phänomene seien. Das Gesetz unserer globalisierten Situation laute demnach: Was irgendwo auf der Welt passiert, kann auch hier einen unmittelbaren Effekt haben, und ebenso andersherum.
Blom hat sich stets als leidenschaftlichen Europäer gesehen. Aber er kann nicht leugnen, dass er neuerdings Verständnis hat für Argumente der Europa-Skeptiker aus verschiedenen Lagern. Erstens heiße es, dass dieses Europa, wie wir es derzeit hätten, nicht demokratisch sei. Zweitens werde darauf verwiesen, dass dieses Europa offenbar seinen politischen Handlungswillen verloren habe. Die Sicht auf ein neoliberales Europa, das sich weniger um die Belange der Bürger kümmere als um eine effiziente Verwaltung von Big Business, sei eine Klage, die man ernst nehmen müsse, betont Blom.
„Ich glaube, dass demokratische Gefüge letztlich funktionieren wie Religionen: Wenn zu viele Menschen nicht mehr daran glauben, dann enden sie. Das ist die Gefahr nicht nur in Bezug auf Europa, sondern in diesem Augenblick auch in Bezug auf unsere Demokratie. Wenn zu viele Menschen den Eindruck haben, dass die Politiker nicht mehr handlungsfähig seien und die Demokratie nicht mehr für die Bürger funktioniere, ist wirklich zu befürchten, dass sich die Menschen nach politischen Alternativen umschauen.“
Auf die Nachfrage, ob heute tatsächlich unsere Demokratie in Gefahr sei, antwortet Philipp Blom: „Absolut, das glaube ich.“
Der Schriftsteller, der im Juli die Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele halten wird, scheint von nachtschwarzen Gedanken geplagt zu sein. Denn auch den Einwand, gegen demokratische Rückschritte gebe es heute im Gegensatz zu früheren Zeiten Sicherungssysteme wie Verfassungsstaat, einen ausgebauten Sozialstaat und eine starke internationale Verflechtung, lässt er nicht gelten. „Wir sehen ja jetzt“, sagt Blom, „wie diese internationale Verflechtung anfängt zu zerfasern. Das hat mit dem Brexit begonnen und setzt sich nun fort mit einer euroskeptischen Regierung in Italien.“
Blom befürchtet, dass wir zu leicht vergessen, wie jung Demokratie in dem vollen Sinne, wie wir sie heute verstehen, als Phänomen in der Geschichte tatsächlich ist. Im Grunde gehe es dabei, sagt der Historiker, um eine Errungenschaft der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Frauen durften in Frankreich ab 1945 wählen, in der Schweiz sogar erst ab 1972. Die Diskriminierung einzelner Gruppen gehört noch immer nicht der Vergangenheit an, wie das Beispiel der USA zeigt, wo die Afroamerikaner trotz der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre noch heute diskriminiert werden. Blom zieht daraus den Schluss: „Demokratie ist kein felsenfest gesichertes System einer Gesellschaft. Wenn immer mehr Menschen unzufrieden sind mit der Demokratie, weil sie das Gefühl haben, dass diese politische Ordnung ihre Interessen nicht mehr repräsentiert, können wir nicht gewiss sein, dass es trotzdem weiterhin demokratisch ablaufen wird. In Staaten um uns herum, wie Polen oder Ungarn, erleben wir ja gerade, dass die Kulissen der Demokratie stehen bleiben, aber das demokratische System selbst längst ausgehöhlt und seiner Strukturen und Institutionen beraubt ist.“
Demokratie sei nicht nur die Herrschaft der Mehrheit, erläutert der Autor. Eine Demokratie ohne Minderheitenschutz, ohne verfassungsmäßig verbriefte Standards wie die Menschenrechte sei zwar „absolut denkbar“, aber eben keine Demokratie, wie wir sie verstehen wollten.
Das Negativszenario für Europa ist laut Blom relativ deutlich: Kein Land könne zum Beispiel in der Umweltpolitik mehr souverän agieren. Kein Land könne auch die Folgen einer Völkerwanderung allein bewältigen. Klimakrise und Migration, so der Schriftsteller, seien Phänomene, „die nicht enden werden, die man sich auch nicht wegwünschen kann, weil sie zur Realität einer globalisierten Welt gehören“. Wenig Sinn hat es nach seinem Dafürhalten, Probleme, die wie Klimawandel, Digitalisierung oder Migration unsere Zukunft bestimmen werden, aus dem Bewusstsein zu schieben. Denn damit „vertun wir einen enormen Handlungsspielraum, den wir jetzt noch haben. Wir haben ihn aber nur dann, wenn wir transnational handeln.“
Darum sollten wir uns nach Bloms Überzeugung auf die Idee konzentrieren, „dass tatsächlich ein besseres, stärkeres und demokratischeres Europa entstehen kann, in dem die Menschen mehr Möglichkeiten und gleichzeitig mehr Sicherheit haben können“.