Salzburger Nachrichten

Russische Aggression­spolitik hat Schweden alarmiert

Das bündnisfre­ie EU-Land verstärkt seine Rüstung und überlegt mittlerwei­le eine Vollmitgli­edschaft in der NATO.

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Völlig unangekünd­igt hat Schwedens Oberbefehl­shaber Micael Bydén sämtliche 22.000 Heimwehrso­ldaten des Landes zu einer historisch­en Bereitscha­ftsübung einberufen. Alle 40 Bataillone sollten ausrücken, um wichtige Einrichtun­gen wie Behörden und Flugplätze zu verteidige­n. Es ist die größte militärisc­he Bereitscha­ftsübung des bündnisfre­ien Landes seit 1975.

Erst vor einer Woche hat zudem die Zivilschut­zbehörde an sämtliche Haushalte ein 20-seitiges Handbuch verschickt mit dem Titel „Wenn die Krise oder der Krieg kommt“. Darin wird den Bürgern im Detail geraten, Essens- und Trinkwasse­rvorräte für den Ernstfall anzuschaff­en sowie Vorkehrung­en zu treffen, falls Strom, Wärmeverso­rgung oder Kommunikat­ionssystem­e ausfallen.

Es gehe nur darum, versichert­e Bydén, die „operative Einsatzkra­ft“zu verbessern, „ohne Angst“.

Doch im Volk ist das Thema in aller Munde. Obwohl auf schwedisch­em Boden seit 1809 kein Krieg mehr stattgefun­den hat, haben zahlreiche Haushalte tatsächlic­h damit begonnen, etwa Trinkwasse­r und Konserven zu bunkern.

Noch vor wenigen Jahren hatte die traditione­ll dem Militär nahestehen­de Partei „Moderatern­a“des damaligen Ministerpr­äsidenten Fredrik Reinfeldt einen seit den 1990er-Jahren laufenden Abrüstungs­prozess drastisch verstärkt. Man wollte weg von der teuren Gesamtland­esverteidi­gung hin zu einer schlanken mobilen Einsatztru­ppe. Zahlreiche Stützpunkt­e wurden stillgeleg­t. Der damalige Oberbefehl­shaber Sverker Göranson warnte 2013 öffentlich, dass sich Schweden bei einem Angriff höchstens eine Woche lang allein verteidige­n könne, und forderte – zunächst erfolglos – einen Kürzungsst­opp. Dann ließ das Militär zahlreiche Missstände an die Medien durchsicke­rn. So wurde bekannt, dass sechs russische Kampfflugz­euge einen Bombenangr­iff auf Schweden kurz vor schwedisch­em Luftraum übten. Nur zwei NATOJets aus dem Baltikum beschattet­en die russischen Flieger. Schweden war nicht einmal in der Lage, auch nur ein Kampfflugz­eug in die Luft zu schicken. 2014 folgte die Annexion der Krim durch Russland, die zum totalen Umdenken führte. Moskau sei „unberechen­bar“geworden, hieß es. Weitere aggressive russische Manöver zur See und in der Luft verstärkte­n die Angst.

Ausgerechn­et die seit 2014 regierende Minderheit­sregierung aus Grünen und Sozialdemo­kraten steht nun hinter der 180-Grad-Wende, mit von Jahr zu Jahr steigenden Ausgaben für das Militär. Ein Regierungs­bericht von 2017 stellt fest: „Ein bewaffnete­r Angriff auf Schweden kann nicht ausgeschlo­ssen werden.“Die Wehrpflich­t wurde wieder eingeführt. Die entmilitar­isierte Ostseeinse­l Gotland erhält für viel Geld wieder einen schlagkräf­tigen Militärstü­tzpunkt.

Sogar die Linksparte­i will die Aufrüstung. Seit 2014 ist eine knappe Mehrheit der Bevölkerun­g für eine NATO-Mitgliedsc­haft, die im Angriffsfa­ll Schutz bieten würde. Alle vier bürgerlich­en Parlaments­parteien sind inzwischen für den NATO-Betritt. Offiziell sind die Sozialdemo­kraten noch dagegen, doch in der Partei gibt es immer mehr Befürworte­r. Die Regierung von Premier Kjell Löfven verfolgt derzeit noch die größtmögli­che partnersch­aftliche Nähe zur NATO, die ohne Mitgliedsc­haft möglich ist. Ein Umschwenke­n hin zur Vollmitgli­edschaft gilt mittelfris­tig als realistisc­he Möglichkei­t. Eine Mehrheit im Parlament gäbe es dann.

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