Jede Lust wird zum Zwang
Zum Start der Sommerszene kehrte Mette Ingvartsen die Gesetze der Pornografie um.
SALZBURG. So richtig will die Orgie nicht in Fahrt kommen. Zwar nehmen die Akteure unermüdlich eindeutige Posen ein, räkeln sich, streicheln einander und bringen sich schon wieder in Stellung für die nächste Ekstase – aber wenn die Körper dann grüppchenweise erstarren, lassen sie eher an die leidvolle Aura klassischer Skulpturen wie der „Laokoongruppe“denken als an die zügellose Spaßbereitschaft der Generation Porno.
Die 15 Tänzerinnen und Tänzer in Mette Ingvartsens Stück „to come (extended)“sind rastlos auf der Suche nach dem nächsten Kick, weil ja auch die Welt immer stärker nach den Gesetzmäßigkeiten der Pornografie funktioniert: Die ständige Überflutung mit schnellen Reizen, sei es in der Werbung oder im sozialen Netzwerk, schürt das Bedürfnis nach noch mehr schnellen Reizen. Jedes stille Wasser und jedes Profilbild muss daher als sexy verkauft werden.
Die dänische Choreografin Mette Ingvartsen untersucht in einer Serie von Stücken, die sie „Red Pieces“nennt, Facetten der Sexualität in der Gesellschaft. Mit ihrem Stück „to come (extended)“begann am Dienstag das Salzburger Performancefestival Sommerszene. Darin unterläuft sie die Mechanismen der Übersexualisierung: Die Performer scheinen zwar von allen Hemmungen befreit zu sein, doch nackt sind sie dabei anfangs nicht. Gesichter und Figuren bleiben unter ihren blauen Ganzkörperanzügen isoliert und werden somit zu abstrakten Projekti0nsflächen.
Auf der leeren, weißen Bühne finden Ingvartsen und ihre Performer starke Bilder für den Zwang zur Lust in einer reizüberfluteten Welt. Indem die Akteure das ganze erste Drittel der einstündigen Performance stumm bleiben, wird etwa die Leere hinter den Versprechen des schnellen Glücks nicht nur sicht-, sondern auch hörbar.
Durch die beständige Wiederholung des Geschehens in Variationen schleichen sich aber auch manche Längen ein. Vielleicht sind sie ja als pädagogischer Warnhinweis deutbar: Vorsicht, die pausenlose Suche nach dem Kick kann auch ermüden.
Schon bald wird die Versuchsanordnung aber ohnehin umgedreht. Die Performer sind nun nicht mehr stumm, aber nackt: Wie auf Kommando aus den Kopfhörern, die sie tragen, üben sie sich in der Disziplin des Synchronstöhnens.
Als dann schlussendlich die Musik daherkommt (swingend, wie könnte es anders sein), löst sich die Spannung in einer Tanzszene auf, die wiederum intensive Bilder und ein paar Längen beinhaltet. Zu den Jazzklängen aus den Boxen wird auf der Bühne hüllenlos der Lindy Hop getanzt. Dass die Zuschauer dabei trotz aller Systemkritik zu Voyeuren gemacht werden, ist ein Spannungsfeld, das wohl bewusst unaufgelöst bleibt. Um das Spannungsfeld von Sexualität und Macht geht es in einem weiteren der „Red Pieces“: Heute, Donnerstag, zeigt Ingvartsen bei der Sommerszene ihre „21 pornographies“.
Ein Spiel mit der Reizüberflutung