1964 Volksaufstand in Vorarlberg
Eine geplante Schiffstaufe am Bodensee führt zu einer handgreiflichen Revolte gegen die Bundespolitik. Diese muss klein beigeben und der Föderalismus in Österreich nimmt seinen Anfang.
FUSSACH, WIEN. Es ist der 21. November 1964. Als der Vorarlberger Landeshauptmann Herbert Keßler auf einer Dienstreise in Innsbruck aus dem Zug geholt wird, erwartet ihn eine Schreckensbotschaft: „Herr Landeshauptmann, bei Ihnen daheim herrscht Revolution!“Keßler weiß sofort, was gemeint ist: Fußach!
In Fußach, einer idyllischen Gemeinde am Bodensee, ist zu diesem Zeitpunkt der Teufel los. Eine aufgebrachte Menge von 20.000 Demonstranten umlagert das Fußacher Werftgelände und blockiert alle Zufahrtswege. Als die hohen Besucher aus Wien eintreffen, empfängt sie ein Hagel von Eiern und faulen Tomaten. Stöcke werden geschwungen und Verwünschungen ausgestoßen. Es ist der reinste Spießrutenlauf. Verkehrsminister Otto Probst (SPÖ) kann sich mit Müh und Not ins Landesgendarmeriekommando retten. „Obst für Probst“, lautet die Devise der aufgebrachten Menge. „Der Bodensee glich einem Kriegsschauplatz“, titeln tags darauf die „Salzburger Nachrichten“.
Was war geschehen? „Ein föderalistischer Aufstand“, schreiben die SN. Doch eigentlich ging es nur um eine Schiffstaufe.
Die ÖBB lassen 1963 ein neues Ausflugsschiff für den Bodensee bauen. Bald steht die Frage an, welchen Namen das Schiff tragen soll. Als Gerüchte nach Vorarlberg dringen, Wien denke an den Namen „Karl Renner“, beginnt sich Unmut zu regen. Das Land präferiert den Namen „Vorarlberg“und lässt das auch Wien wissen.
Im Herbst 1964 erkundigt sich der Bregenzer Bürgermeister beim zuständigen Verkehrsminister Otto Probst, wie das Schiff heißen soll. Probst, ein Sozialdemokrat, antwortet in einem vierzeiligen Brief ohne Unterschrift: Es werde „Karl Renner“heißen.
Für Vorarlberg ist das völlig inakzeptabel. Warum? „Renner war ein Wiener Politiker, noch dazu ein sozialistischer Wiener Politiker“, sagt der Leiter des Instituts für Föderalismus in Innsbruck, Peter Bußjäger. „Und man darf eines nicht vergessen: Karl Renner hat sowohl nach dem Ersten als auch nach dem Zweiten Weltkrieg versucht, aus Österreich einen Einheitsstaat zu machen.“Das hat man im föderalistisch gesinnten Vorarlberg nicht vergessen. Doch der Verkehrsminister wischt alle Einwände beiseite. Er beruft sich auf das „unbestreitbare“Recht der ÖBB, ihr Schiff so zu nennen, wie es ihnen beliebt, und beruft sich auch auf entsprechende Parteibeschlüsse der SPÖ. Die Taufe des Schiffs setzt er für den 21. November an. Im Vorfeld geschieht Ungeheuerliches: Die Vorarlberger Landesregierung beschließt offiziell, die Schiffstaufe zu boykottieren. Auch die lokalen Bürgermeister und Honoratioren kündigen an, dem Stapellauf fernzubleiben.
Die „Vorarlberger Nachrichten“veröffentlichen auf ihrer Titelseite einen Aufruf, die Vorarlberger mögen am Tag der Schiffstaufe gegen Probst und sein „Diktat“demonstrieren. Die Stimmung wird immer aufgeheizter.
Das Ausmaß der Proteste übertrifft dann alle Erwartungen. „Es war eine Revolte“, sagt Föderalismusforscher Peter Bußjäger, selbst ein Vorarlberger. „Etwas, das es weder davor noch danach in Österreich gegeben hat.“Probst und seine Gäste, die mit dem Sonderzug aus Wien anreisen, werden schon auf dem Bahnhof wütend empfangen.
Mit ÖBB-Bussen sollen sie von dort zum Werftgelände gebracht werden. Als die Busse wegen der Menschenmassen nicht weiterkönnen, müssen sich die Gäste den Weg zu Fuß durch die Menge bahnen. Es kommt zu Übergriffen. „Mehr Demokratie, weniger Personenkult“ steht auf den Transparenten der Demonstranten zu lesen. Oder: „Laßt den Wiener Schmäh, Vorarlberg liegt am Bodensee!“Oder: „Mit fremdem Geld wird nicht gemopst, heil Dir, Verkehrsminister Probst!“
Der solcherart Adressierte versucht zu diesem Zeitpunkt, mit einem Motorboot – es trägt den Namen „Dornbirn“– vom See aus das Werftgelände zu erreichen. Der Vorarlberger Sicherheitsdirektor rät per Funk ab. Er könne für die Sicherheit des Ministers nicht mehr garantieren.
Die Demonstranten haben sich mittlerweile Zutritt zum abgeriegelten Werftgelände verschafft und stürmen das Schiff. Sie reißen die rot-weiß-rote Flagge vom Rednerpult herunter, überpinseln den Schiffsnamen „Karl Renner“und nehmen mit einer Flasche Wein eine „Nottaufe“auf den Namen „Vorarlberg“vor. Das Ganze geschieht unter Absingen der Vorarlberger Landeshymne.
Minister Probst wird unter starkem Gendarmerieschutz nach Bregenz zurückgebracht, wo er die Heimreise antritt. Noch von unterwegs befiehlt er die gerichtliche Verfolgung der „Rädelsführer“und die Beschlagnahme der „Vorarlberger Nachrichten“wegen „Aufwiegelung“. Die Vorarlberger Behörden lehnen das ab.
In Wien hat die Fußach-Affäre, wie sie bald genannt wird, ein heftiges politisches Nachspiel. Es kommt zu einem schweren Koalitionskrach, da die SPÖ die ÖVP hinter den Protesten in Vorarlberg vermutet. Das Schiff in Fußach bleibt vorerst ungetauft. Erst nach einer weiteren – diesmal friedlich verlaufenden – Demonstration in Bregenz mit 40.000 Teilnehmern lenkt die SPÖ ein. Im Juli 1965 wird das Schiff auf den Namen getauft, unter dem es noch heute durch die Wellen des Bodensees pflügt: „Vorarlberg“.
„Es war eine föderalistische Sternstunde“, resümiert der Wissenschafter Bußjäger. Zum ersten Mal seien den Zentralstellen ihre Grenzen aufgezeigt worden – durch das Symbol Fußach. „Das war der erste Sieg der Bundesländer“, sagt Bußjäger. Danach hätten sie Selbstbewusstsein entwickelt und erste Forderungsprogramme an den Bund gerichtet.
Fußach wird für immer mit der Schiffstaufe im Jahr 1964 verbunden bleiben. Überall, wo er hinkomme, höre er „Ah, Fußach!“, erzählte einmal Bürgermeister Ernst Blum. Fußach sei bekannter als Bregenz.