Russland startet mit viel Zweifel
Die Gastgebermannschaft geht bei der Fußball-WM in Russland als Antifavorit in das Turnier. Das liegt an fehlenden Spielideen, an der chaotischen Nachwuchsarbeit der Neunzigerjahre, aber auch an der Ausländerquote.
Wladimir Putin predigt auch diesmal patriotischen Optimismus: „Wir rechnen darauf, dass unsere Mannschaft durchstartet“, sagte der Präsident vor Beginn der WM. „Und dass sie ihre besten Eigenschaften präsentiert.“Heute, Donnerstag, wird die Sbornaja das Eröffnungsspiel der ersten vaterländischen Fußball-WM gegen SaudiArabien bestreiten. Die russische Öffentlichkeit aber rätselt, welche Eigenschaften ihr Team überhaupt besitzt. „Diese Mannschaft ist wie eine Gleichung, die nur Unbekannte hat“, klagt die Zeitung „Trud“.
Tatsächlich geht der Gastgeber, inzwischen auf Platz 70 der FIFARangliste abgestürzt, als Antifavorit ins Turnier. Sieben sieglose Spiele in Folge, in den letzten beiden Vorbereitungsspielen gegen Österreich und die Türkei nur ein einziger Torschuss – schon hagelt es Häme gegen Trainer Stanislaw Tschertschessow. „Wir hatten unseren Plan“, sagte er nach dem 0:1 gegen Österreich, und „in den ersten 25 Minuten hat er auch ideal funktioniert.“Tatsächlich herrscht eher Verwirrung, auf dem Platz und darum herum. „Eine Spielidee ist nicht zu erkennen“, sagt Igor Rabiner, Fußballexperte der Zeitung „Sport-Express“. „Das deutlichste Element ist noch das Pressing, dass Tschertschessow der Mannschaft beigebracht hat.“Aber der Plan hinter diesem Pressing sei primitiv bis zur Hässlichkeit, schimpft die Internetzeitung gazeta.ru: Den Ball möglichst nah am fremden Tor abzufangen, mit möglichst wenig Gegnern davor, damit die russischen Stürmer irgend etwas draus machen. Die Taktik klingt nicht nach „Rasen- schach“, dem technisch starken Kombinationsspiel, mit dem die sowjetische Sbornaja einst glänzte. Sie klingt eher nach Irland oder Island. Oder nach der NATO-Vorneverteidigung aus den 1980er-Jahren. Und wenn schnelle und ballsichere Gegner das russische Pressing aushebeln, treffen sie nicht unbedingt auf die flinkste Abwehr dieser WM. Nachdem Tschertschessow zwei Jahre lang mit drei Innen- und zwei Außenverteidigern spielen ließ, wechselte er vor einigen Wochen überraschend zu einer Viererkette. Zum Teil auch verletzungsbedingt: Die Innenverteidiger Georgi Dschikija und Viktor Wassin sind mit Kreuzbandrissen ausgefallen.
Um sie zu ersetzen, versuchte der Trainer die 36-jährigen Zwillinge Alexei und Wassili Beresuzki zu reaktivieren, die bis zur EM 2016 das Rückgrat der Verteidigung stellten, aber sie sagten ab.
Immerhin kehrte ihr ZSKA-Kollege Sergei Ignaschewitsch zurück. Er ist inzwischen 38. Auch sein Nebenmann Wladimir Granat, 31, gilt nicht als Sprinter. Nicht nur Topverteidiger sind in Russland knapp geworden. „Die Generation um Andrei Arschawin, die bei der EM 2008 begeisternden Fußball spielte, hat noch in der Sowjetunion angefangen zu kicken“, erklärt Samwel Awakjan, Chefredakteur des Fachportals championat.ru.
Es hapert an der Nachwuchsarbeit in den chaotischen 1990er- Jahren. Und es hapert am gesamten russischen Profisystem. Spitzenklubs wie Zenit Sankt Petersburg oder oder Lokomotive Moskau lassen sich von Großkonzernen mit viel Geld aufrüsten, dürfen aber wegen der Ausländerquote in der russische Premier-Liga nicht mehr als fünf Legionäre aufstellen. Das bedeutet für einheimische Talente eine Stammplatzgarantie bei bundesligareifen Gehältern. So soll ZenitStürmer Alexander Kokorin 3,3 Millionen Euro im Jahr verdienen. Auf dem Rasen lernt er von der Klasse seiner argentinischen Mitspieler, im Alltag taucht er mit seinem Bentley auch mal auf der Gegenfahrbahn auf. Es mangelt an hungrigen Profifußballern, an Kämpfern mit Führungsqualitäten.
Spektakulärer Fußball sei von dieser Sbornaja nicht zu erwarten, sagt Awakjan. Bleibt die Hoffnung auf das Publikum. Vielleicht beflügelt ja die Unterstützung in Moskau, Samara und Petersburg die russischen Spieler. Und schüchtert ihre Gegner ein. Aber an ein Fußballwunder will niemand glauben.