Eine Leserin täuscht ihre Betrachter
Liest diese schöne Dame? Wer dies wissen will, sollte Bilder lesen können.
KOCHEL. Liest diese in osmanischer Mode gekleidete Dame tatsächlich? Wie so oft versieht der Meister der Pastellfarben Jean-Étienne Liotard auch hier das Augenfällige mit einer Irritation. Einmal hat er einer unsäglich elegant angezogenen Dame einen solchen Kuhaugenblick verpasst, dass man sich wundert: Ist das eine verkleidete, dumpfsinnige Magd? Einem adretten Mädchen mit Spitzenhäubchen hat er einen so graugelben Teint gemalt, dass man erkennt: Die ist ja krank! Und hier diese Lesende: Ihre Wange hat zu viel Rouge, ihre Lippen tragen zu dickes Rot, überhaupt passen ihr Hermelin, ihre Schühchen aus weichem Leder und ihr möglicherweise absichtsvoll glatt gestrichenes, lasziv geöffnetes, von Blüten übersätes Mäntelchen nicht zum Habitus einer in Lesestoff versunkenen Frau.
Und doch umgibt sie jene hermetische Aura, die Rainer Maria Rilke an Lesenden beobachtet hat: „Manchmal bewegen sie sich in den Blättern wie Menschen, die schlafen und sich umwenden zwischen zwei Träumen (…). Du kannst hingehen zu einem und ihn leise anrühren: er fühlt nichts.“Damit ist Rilke im Katalog einer Ausstellung zitiert, die den Lesenden und dem Lesen gewidmet ist. Mit deren Eröffnung feiert ein für die bayerische Provinz ungewöhnlich reiches Museum morgen, Sonntag, ein Jubiläum: Das Franz-Marc-Museum in Kochel am See hat vor zehn Jahren seinen Erweiterungsbau eingeweiht.
Das 1986 gegründete und 2008 um 700 Quadratmeter Ausstellungsfläche vergrößerte Haus ist dem Mitbegründer der Künstlergruppe Blauer Reiter gewidmet. Franz Marc, Wassily Kandinsky, August Macke, Gabriele Münter oder Alexej Jawlensky haben in der hiesigen Landschaft gemalt – um Kochel und um die sechzehn Kilometer entfernte Gemeinde Murnau.
Das Franz-Marc-Museum verdankt seine Sammlung mit Kunst des 20. Jahrhunderts vor allem zwei so hochkarätigen Stiftungen, dass es für eine Ausstellung wie „Lektüre“von renommierten Institutionen Leihgaben erhält – wie Pablo Picassos „La Lecture“aus dem Berggruen-Museum in Berlin oder Auguste Renoirs „Lesendes Mädchen“aus dem Städel in Frankfurt.
Die Ausstellung spürt dem Lesen im doppelten Sinn nach. Da sind freilich Menschen mit Lektüre – wie „Lesende Frau im Grünen“von Franz Marc oder „Der Zeitungsleser“von Lovis Corinth oder „Beim Vorlesen“von Erich Heckel. Wer sich allerdings selbst beim Betrachten solcher Bilder beobachtet, kann erkennen, dass auch dies eine Art des Lesens ist: des Erkennens von Zeichen, von Semantik, von sinnhaften Zusammenhängen. Anders gesagt: Das Lesen lässt sich lesen. Oder noch einmal anders: Auch Bilder lassen sich lesen.
Paul Klee habe Schreiben und Bilden als „wurzelhaft eins“erachtet, erläutert Fabienne Eggelhöfer, Chefkuratorin am Paul-Klee-Zentrum in Bern. Denn Bild und Schrift hätten dieselbe Funktion: eine Idee zu vermitteln. Und Bild wie Schrift hätten denselben Ausgang, und zwar einen Punkt, der sich in Bewegung setze und zur Linie werde. So hat Paul Klee in seinen Bildkompositionen auch Buchstaben integriert – zum Beispiel in „Das literarische Klavier“, das jetzt in der Ausstellung in Kochel zu sehen ist.
Diese würdigt mit Blick auf die Verwandtschaft von Schrift und Bild einen zweiten Künstler: Cy Twombly. Auch der hat aus Buchstaben und Wörtern Bilder gemacht. Noch mehr: Seine Kreidelinien auf fast schwarzem Karton wirken wie eine kindliche Vorform von Schrift. Der französische Philosoph Roland Barthes deutete das andersherum: „Von der Schrift bewahrt Twombly die Geste, nicht das Resultat.“So oder so – sein gekritzeltes Bild irritiert die Leselust, weil das im Gestus des Schreibens Dargestellte nicht lesbar ist. Ausstellung: