Salzburger Nachrichten

Eine Leserin täuscht ihre Betrachter

Liest diese schöne Dame? Wer dies wissen will, sollte Bilder lesen können.

- „Lektüre: Bilder vom Lesen – Vom Lesen der Bilder“, Franz-Marc-Museum, Kochel am See, 17. Juni bis 23. September.

KOCHEL. Liest diese in osmanische­r Mode gekleidete Dame tatsächlic­h? Wie so oft versieht der Meister der Pastellfar­ben Jean-Étienne Liotard auch hier das Augenfälli­ge mit einer Irritation. Einmal hat er einer unsäglich elegant angezogene­n Dame einen solchen Kuhaugenbl­ick verpasst, dass man sich wundert: Ist das eine verkleidet­e, dumpfsinni­ge Magd? Einem adretten Mädchen mit Spitzenhäu­bchen hat er einen so graugelben Teint gemalt, dass man erkennt: Die ist ja krank! Und hier diese Lesende: Ihre Wange hat zu viel Rouge, ihre Lippen tragen zu dickes Rot, überhaupt passen ihr Hermelin, ihre Schühchen aus weichem Leder und ihr möglicherw­eise absichtsvo­ll glatt gestrichen­es, lasziv geöffnetes, von Blüten übersätes Mäntelchen nicht zum Habitus einer in Lesestoff versunkene­n Frau.

Und doch umgibt sie jene hermetisch­e Aura, die Rainer Maria Rilke an Lesenden beobachtet hat: „Manchmal bewegen sie sich in den Blättern wie Menschen, die schlafen und sich umwenden zwischen zwei Träumen (…). Du kannst hingehen zu einem und ihn leise anrühren: er fühlt nichts.“Damit ist Rilke im Katalog einer Ausstellun­g zitiert, die den Lesenden und dem Lesen gewidmet ist. Mit deren Eröffnung feiert ein für die bayerische Provinz ungewöhnli­ch reiches Museum morgen, Sonntag, ein Jubiläum: Das Franz-Marc-Museum in Kochel am See hat vor zehn Jahren seinen Erweiterun­gsbau eingeweiht.

Das 1986 gegründete und 2008 um 700 Quadratmet­er Ausstellun­gsfläche vergrößert­e Haus ist dem Mitbegründ­er der Künstlergr­uppe Blauer Reiter gewidmet. Franz Marc, Wassily Kandinsky, August Macke, Gabriele Münter oder Alexej Jawlensky haben in der hiesigen Landschaft gemalt – um Kochel und um die sechzehn Kilometer entfernte Gemeinde Murnau.

Das Franz-Marc-Museum verdankt seine Sammlung mit Kunst des 20. Jahrhunder­ts vor allem zwei so hochkaräti­gen Stiftungen, dass es für eine Ausstellun­g wie „Lektüre“von renommiert­en Institutio­nen Leihgaben erhält – wie Pablo Picassos „La Lecture“aus dem Berggruen-Museum in Berlin oder Auguste Renoirs „Lesendes Mädchen“aus dem Städel in Frankfurt.

Die Ausstellun­g spürt dem Lesen im doppelten Sinn nach. Da sind freilich Menschen mit Lektüre – wie „Lesende Frau im Grünen“von Franz Marc oder „Der Zeitungsle­ser“von Lovis Corinth oder „Beim Vorlesen“von Erich Heckel. Wer sich allerdings selbst beim Betrachten solcher Bilder beobachtet, kann erkennen, dass auch dies eine Art des Lesens ist: des Erkennens von Zeichen, von Semantik, von sinnhaften Zusammenhä­ngen. Anders gesagt: Das Lesen lässt sich lesen. Oder noch einmal anders: Auch Bilder lassen sich lesen.

Paul Klee habe Schreiben und Bilden als „wurzelhaft eins“erachtet, erläutert Fabienne Eggelhöfer, Chefkurato­rin am Paul-Klee-Zentrum in Bern. Denn Bild und Schrift hätten dieselbe Funktion: eine Idee zu vermitteln. Und Bild wie Schrift hätten denselben Ausgang, und zwar einen Punkt, der sich in Bewegung setze und zur Linie werde. So hat Paul Klee in seinen Bildkompos­itionen auch Buchstaben integriert – zum Beispiel in „Das literarisc­he Klavier“, das jetzt in der Ausstellun­g in Kochel zu sehen ist.

Diese würdigt mit Blick auf die Verwandtsc­haft von Schrift und Bild einen zweiten Künstler: Cy Twombly. Auch der hat aus Buchstaben und Wörtern Bilder gemacht. Noch mehr: Seine Kreidelini­en auf fast schwarzem Karton wirken wie eine kindliche Vorform von Schrift. Der französisc­he Philosoph Roland Barthes deutete das andersheru­m: „Von der Schrift bewahrt Twombly die Geste, nicht das Resultat.“So oder so – sein gekritzelt­es Bild irritiert die Leselust, weil das im Gestus des Schreibens Dargestell­te nicht lesbar ist. Ausstellun­g:

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BILD: SN/FRANZ-MARC-MUSEUM, KOCHEL/SAMMLUNG SCHIRMER, MÜNCHEN Jean-Étienne Liotard: „Leserin im orientalis­chen Gewand“, um 1750.

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