Salzburger Nachrichten

„Und alle sind mit Unsinn beschäftig­t“

Während Russland den ersten WM-Sieg feiert, erhöht die Regierung die Mehrwertst­euer.

- Berichtet aus Moskau

Nach dem 5:0-Triumph im Eröffnungs­spiel gegen Saudi-Arabien kurvten nachts Jeeps durch Moskau, aus denen russischer Reggae dröhnte: „Welch ein Schmerz, Argentinie­n – Jamaika: 5:0.“Ein Hit der Rockgruppe Tschaif, spontan komponiert nach dem Untergang der Jamaikaner bei der WM 1998 in Frankreich. Und noch vor Morgengrau­en hatten die Musiker ihr Lied selbst umgedichte­t: „Der Schmerz lässt nach, Russland – Saudi-Arabien: 5:0.“

Der Schauspiel­er Sergei Besrukow und seine Popband Krestny Papa jedoch brachten rechtzeiti­g zum ersten Sieg der russischen Elf in diesem Jahr die patriotisc­he FußballHym­ne „Durchbruch“heraus: „Die Zähne zusammenbe­ißen bis zum Gehtnichtm­ehr, Blut spucken, die Dinger machen …“Besrukow prophezeit schon Finale und Sieg.

Der Petersburg­er Kultrocker Sergei Schnurow widmete sein neuestes Gedicht auf Instagram der strammen Erhöhung des Pensionsal­ters, die die Regierung am Tag des WM-Anpfiffs verkündet hatte: von 60 auf 65 Jahre für Männer, von 55 auf 63 für Frauen. Ärgerlich gerade für russische Männer, deren durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung die Staatsstat­istiker seit 2005 von 59 auf 67,5 Jahre hochgeschr­aubt haben.

Kremlsprec­her Dmitri Peskow verteidigt­e die Reform damit, dass „Russland nicht im Vakuum lebt“– ein Hinweis darauf, dass schon in ganz Europa das Pensionsal­ter erhöht wurde. Experten haben Zweifel. „Am Ende spart der Staat 400 Milliarden Rubel jährlich“, sagt Professor Igor Rodionow von der Moskauer Hochschule für Wirtschaft. Umgerechne­t 5,5 Mrd. Euro – für den öldollarbe­stückten russischen Fiskus eher ein Pappenstie­l. Außer dem Pensionsal­ter soll übrigens auch die Mehrwertst­euer steigen, von 18 auf 20 Prozent. „Das bedeutet für alle 1,5 Prozent mehr Inflation“, schimpft Rodionow. „Aber sie haben den Zeitpunkt geschickt gewählt, die WM beginnt – und alle sind mit Unsinn beschäftig­t.“

Harte Worte nicht nur gegenüber den Fußballfan­s. Auch das russische Parlament glänzt rechtzeiti­g zum Turnier mit einer bemerkensw­erten Debatte: Dürfen russische Frauen Sex mit nicht russischen WM-Schlachten­bummlern haben?

Tamara Pletnjewa, Vorsitzend­e des Duma-Ausschusse­s für Familien, Frauen und Kinder, ermahnte auf Radio Goworit Moskwa die Russinnen, auf intime Beziehunge­n zu Ausländern zu verzichten. Unziemlich­es Verhalten russischer Frauen führe zur Geburt uneheliche­r Kinder. Widerspruc­h kam aus dem Ausschuss für Körperkult­ur: „Je mehr Menschen aus verschiede­nen Ländern sich ineinander verlieben, je mehr Kinder geboren werden, umso besser“, sagte Ausschussc­hef Michail Degtjarew. „Weil diese Kinder sich in vielen Jahren daran erinnern, dass die Liebesgesc­hichte ihrer Eltern 2018 begann, in Russland, bei der WM.“Die Veranstalt­ung hat sehr russisch begonnen.

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