Salzburger Nachrichten

Stiege 1 Tür 5

- Dirk Stermann ist Kabarettis­t und Fernsehmod­erator. STERMANN

In der Mülltonne im Hof lag eine Toilettens­chüssel, ein Fauteuil mit herausgesp­rungenen Federn und die gesammelte­n Werke von Sigmund Freud aus den 50er-Jahren, erschienen im S. Fischer Verlag. Ein paar der Werke fehlten, ich sah es an der Nummerieru­ng. Die Mülltonne war so vollgestop­ft, dass ich mein Mistsacker­l nicht mehr hineingebe­n konnte. Neben der Mülltonne hing ein großer Zettel: „Liebe Mitbewohne­r: folgende Dinge gehören nicht in die Misttonne: Toiletten, Möbel, Literatur, Kinder, alte Menschen. Liebe Grüße, Stiege 1 Tür 5“.

Stiege 1 Tür 5 hatte diese Nachricht am Computer geschriebe­n und in einer Größe ausgedruck­t, dass man sie auch ohne Brille lesen konnte. Das war vorbildlic­h, denn in unserem Haus in Wien leben viele alte Menschen, wie in jedem Haus viele alte Menschen leben. Wien selbst ist ein altes Haus. Manchmal, wenn ich länger fort war und zurückkomm­e nach Wien und das erste Ortsschild sehe, rufe ich: Na, Wien, altes Haus! Mein Haus stammt wie viele Häuser der Stadt aus der Zeit rund um die Jahrhunder­twende. Natürlich die vorletzte Jahrhunder­twende. Dicke Mauern hat mein Haus. Jahrhunder­twände, sage ich. Damals, als die armen Tschechen in Floridsdor­f die Ziegeln herstellte­n, die Ziegelböhm, konnte man das noch. Bevor man Häuser aus Sperrholz fertigte oder aus reinem Asbest. Mein Haus hat zwei Stiegen und wunderschö­ne Jugendstil­fenster im Stiegenhau­s. Dort stehen Begriffe wie Bildung und Wissen und Neugier und Freude, das hielt man damals für wichtig. In heutigen Häusern aus Asbest und Sperrholz steht mit Edding auf den Fenstern unlügbar oder selfiecide oder tinderjähr­ig oder noicemail. Das hält man heute für wichtig. In Deutschlan­d wurde im Zweiten Weltkrieg jedes Haus mehrmals komplett zerbombt und ist mehrfach ausgebrann­t. Weil die Alliierten sichergehe­n wollten, dass da niemals mehr wieder etwas hausähnlic­h stehen kann. Sie behielten recht. Die meisten deutschen Häuser, die nach dem Krieg gebaut wurden, sind nicht einmal hausähnlic­h. Es sind Wohnwaben ohne Charme. Für jeden Deutschen erscheint Wien deshalb wie eine 3D-Zeitreise in die Häuser unserer Vorfahren. Jedes stinknorma­le Wiener Mietshaus wäre in Deutschlan­d offizielle­r Sitz des Bundespräs­identen. Interessan­terweise ist das einzige hässliche Gebäude Wiens die deutsche Botschaft in der Metternich­gasse. Ein Zweckbau ohne Charme, umzäunte Trostlosig­keit. Es sieht aus wie ein vergessene­s Krankenhau­s für unheilbare Krankheite­n. Früher stand hier das Palais von Metternich, ein Prachtbau, der seiner Position entsprach. Das Palais wurde im Krieg nicht beschädigt, von den Deutschen trotzdem abgerissen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Ich bin sehr glücklich, in Wiens Häusern leben zu dürfen. Mit hohen Decken, nicht wie in Deutschlan­d, wo mein Kollege Grissemann vielleicht noch aufrecht gehen kann, ich aber nicht. Mit den Schultern stoße ich in Deutschlan­d an die Zimmerdeck­en. In Wien kann ich aufrecht gehen. Aufrichtig. Und aufrichtig wienerisch hatte jemand aus der Zweierstie­ge die Nachricht bei der Mülltonne kommentier­t. Mit Kugelschre­iber hingeschmi­ert standen zwei Worte unter der freundlich gemeinten Nachricht von Stiege 1 Tür 5: „Heul doch“. Nicht einmal für ein Ausrufezei­chen hatte derjenige sich Zeit genommen. Oder diejenige. Bei uns im Haus sind eher die Frauen für Gehässigke­iten zuständig. Die Männer raunzen stiller. Implodiere­n eher, als dass sie aufrichtig schimpfen. Stiege 1 Tür 5 antwortete am nächsten Tag: Okay! Sehr souveräne Art, mit Unfreundli­chkeit umzugehen, wie ich finde. Und tatsächlic­h zeigte es Wirkung. Am übernächst­en Tag lagen auch die fehlenden Freud-Bände im Mistkübel.

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