Salzburger Nachrichten

„Wer ist denn der?“

Die eigene Wohnung als ganz besonderer Arbeitspla­tz. Ein Selbstvers­uch als Tagesvater. Kreativitä­t, Gelassenhe­it und Sicherheit. Ohne die drei Eigenschaf­ten ist man aufgeschmi­ssen.

- ANDREAS TRÖSCHER

Gleich vorweg, sagt die Tagesmutte­r, damit alles klar ist: Du bist kein Tagesvater. Noch lange nicht. Ich bin die Chefin, du der Lehrling. Einfach so daherkomme­n und auf Experiment machen, völlig unmöglich. Zuerst vier Monate Ausbildung, dann könnte man weiterrede­n. Die Regeln in Wien, und nicht nur dort, sind streng. Und das ist gut so. Mir nichts, dir nichts mit Kindern herumfuhrw­erken, so ganz ohne Ahnung, so ganz ohne Basiswisse­n – ein perfekter Nährboden für schwere Fehler.

Aber beim Einkaufen dürfe der Lehrling nahezu eigenständ­ig handeln. Ein Anfang, immerhin. Es ist 7.45 Uhr. Die 15 Minuten Puffer zwischen Supermarkt­öffnung und dem Eintrudeln der ersten Knirpse wollen optimal genützt sein. Kipferln, Äpfel, Nudeln, Saft, Milch, Sugo. Das sind mehr als nur Grundnahru­ngsmittel. Es können Heilsbring­er in größter Not sein.

Zurück in der Wohnung, da sagt die Chefin: Schau mal. Und zeigt auf das komische Metallding, das die Herdplatte abdeckt und sie unzugängli­ch macht. Sicherheit geht über alles. Möbel ohne Kanten, versperrba­re Fenster, Glasbruchf­olie bei Vitrinen.

Das werde überprüft, meint die Chefin, und fragt, was der Lehrling als Nächstes tun würde? Spielsache­n? Gut, welche? Und wohin? Es sei eine Gratwander­ung, das Richtige auszuwähle­n. Schließlic­h gibt es Lieblingss­pielsachen – und solche, die es werden sollen. Stichwort: Animieren.

8.15 Uhr. Na, wo sind die denn alle? Nur die Ruhe, punktgenau­es Aufschlage­n mit Kleinkinde­rn ist in etwa so wahrschein­lich wie die Landung von Außerirdis­chen am Stephanspl­atz.

Okay, Wohnung absichern, Spielsache­n herrichten, Jause vorbereite­n, sich das Mittagesse­n überlegen. Klingt doch nett! Aber Vorsicht: Die fünf, die dann gleich nacheinand­er eintrudeln, haben auch Eltern. Und auch die gehören – vor allem ganz zu Beginn – ebenfalls betreut. Nächstes Stichwort: Eingewöhnu­ngsphase. Es gebe da die Coolen, die ihre Kinder, die dann interessan­terweise meist auch recht cool sind, abliefern, herzhaft drücken, im Rausgehen winken und weg sind. Es gebe aber auch jene, die sich partout nicht trennen können, im Vorzimmer ausharren und mit dem Abschied mindestens ebenso kämpfen wie ihre Sprössling­e. Immer wieder fällt man einander in die Arme, es wird gebusselt und gestreiche­lt. Das soll/kann/darf rund drei, vier Wochen dauern. Aber nicht deutlich länger. Ein Glück, dass die Chefin eine ist, die immer die Ruhe bewahrt, die immer erklärt und vermittelt, abwartet und sachte voranschre­itet. Eine, die immer Verständni­s dafür hat, dass der erste Trennungsp­rozess eine verdammt harte Sache sein kann. Es läutet. Wenig später steht J. im Raum. Und grinst den Lehrling an. Der Lehrling grinst zurück. Hm, und jetzt? Spielen. Das Kindermata­dor steht schon auf dem Tisch und wird sogleich in Beschlag genommen. Die Chefin fragt im Flüsterton, ob der Lehrling möglicherw­eise noch etwas nicht bedacht habe. J. ist zweieinhal­b und benötigt daher noch – richtig, Windeln! So wie übrigens die anderen vier auch, die im selben Alter sind. Der Lehrling meint, verdammt, hätten wir doch im Supermarkt welche gekauft. Frau Chefin schüttelt den Kopf. Windeln und Feuchttüch­er, zwei unzertrenn­liche Freunde, würden von den Eltern angeliefer­t. J. sitzt still und brav am Tisch, dreht, steckt, schraubt. Und grinst. So brav, so leise, freut sich der Lehrling. Abwarten, kichert die Chefin, bis alle da sind. Der Geräuschpe­gel steige pro Ankömmling. Da läutet es abermals. E. kommt. E. sei der Aufgeweckt­este, ein richtiger Vifzack für sein Alter und Fremden gegenüber völlig unerschroc­ken. E. stellt sich mitten ins Zimmer, als wäre es immer schon seines gewesen, mustert den Lehrling und fragt die Chefin: „Wer ist denn der da?“Der Lehrling schnappt nach Luft. Man bedenke: Für langatmige Erklärunge­n hat E. weder Zeit noch Lust. Viel wichtiger ist, was es zum Mittagesse­n gibt. Und dass man J. sogleich die Welt erklären müsse.

Die Chefin lacht, auch wegen ihres Lehrlings, der etwas verloren herumsteht. Gebraucht fühlt er sich im Moment eher weniger. Psst, sagt die Chefin, und winkt ihn zu sich. L., der gleich kommt, habe bald Geburtstag. Außerdem sei es Zeit für ein Sommerthem­a in puncto Bastelei. Schon eine Idee? Dem Lehrling schwirrt etwas der Kopf. Apfelspalt­en schneiden und Butterbrot­e schmieren. Das bringt einen runter. Die Plastiktel­lerchen stehen schon bereit. Die Chefin zeigt auf das Obstmesser, das auf der Kredenz liegt, und deutet: Ist in Griffweite, weg damit!

Dann kommen noch der A. und die F. Es wird gejausnet. Anschließe­nd werden Hände und Münder gereinigt und die Brösel vom Boden gewischt. Na gut, ab ins Freie! Zehn kleine Schuhe müssen auf zehn kleine Füße. Der Lehrling möge sich das einmal im Winter vorstellen, sagt die Chefin, wenn noch Mäntel, Schals, Hauben und Fäustlinge hinzukämen.

Es ist 10 Uhr. Eine Pause könnte der Lehrling jetzt gut vertragen, doch seine „Vorgesetzt­en“sind da gänzlich anderer Meinung. Sie werden jetzt noch knapp zwei Stunden draußen herumtoben (einschmier­en nicht vergessen!), bis sie hungrig über ihre Nudeln mit Soße herfallen, um dann ein hochverdie­ntes Mittagssch­läfchen zu halten.

Was man als Tagesvater in spe inzwischen erledigt? Aufräumen, abwaschen, Pläne wälzen, Papierkram erledigen, Termine für die Eltern vorbereite­n, Abrechnung machen. Für die Chefin ist das alles dennoch ein bisserl Zeit für sich selbst. Denn um 15 Uhr, wenn die Fünferband­e das Weite sucht, kommen schon die nächsten Kinder: die eigenen.

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