„Wer ist denn der?“
Die eigene Wohnung als ganz besonderer Arbeitsplatz. Ein Selbstversuch als Tagesvater. Kreativität, Gelassenheit und Sicherheit. Ohne die drei Eigenschaften ist man aufgeschmissen.
Gleich vorweg, sagt die Tagesmutter, damit alles klar ist: Du bist kein Tagesvater. Noch lange nicht. Ich bin die Chefin, du der Lehrling. Einfach so daherkommen und auf Experiment machen, völlig unmöglich. Zuerst vier Monate Ausbildung, dann könnte man weiterreden. Die Regeln in Wien, und nicht nur dort, sind streng. Und das ist gut so. Mir nichts, dir nichts mit Kindern herumfuhrwerken, so ganz ohne Ahnung, so ganz ohne Basiswissen – ein perfekter Nährboden für schwere Fehler.
Aber beim Einkaufen dürfe der Lehrling nahezu eigenständig handeln. Ein Anfang, immerhin. Es ist 7.45 Uhr. Die 15 Minuten Puffer zwischen Supermarktöffnung und dem Eintrudeln der ersten Knirpse wollen optimal genützt sein. Kipferln, Äpfel, Nudeln, Saft, Milch, Sugo. Das sind mehr als nur Grundnahrungsmittel. Es können Heilsbringer in größter Not sein.
Zurück in der Wohnung, da sagt die Chefin: Schau mal. Und zeigt auf das komische Metallding, das die Herdplatte abdeckt und sie unzugänglich macht. Sicherheit geht über alles. Möbel ohne Kanten, versperrbare Fenster, Glasbruchfolie bei Vitrinen.
Das werde überprüft, meint die Chefin, und fragt, was der Lehrling als Nächstes tun würde? Spielsachen? Gut, welche? Und wohin? Es sei eine Gratwanderung, das Richtige auszuwählen. Schließlich gibt es Lieblingsspielsachen – und solche, die es werden sollen. Stichwort: Animieren.
8.15 Uhr. Na, wo sind die denn alle? Nur die Ruhe, punktgenaues Aufschlagen mit Kleinkindern ist in etwa so wahrscheinlich wie die Landung von Außerirdischen am Stephansplatz.
Okay, Wohnung absichern, Spielsachen herrichten, Jause vorbereiten, sich das Mittagessen überlegen. Klingt doch nett! Aber Vorsicht: Die fünf, die dann gleich nacheinander eintrudeln, haben auch Eltern. Und auch die gehören – vor allem ganz zu Beginn – ebenfalls betreut. Nächstes Stichwort: Eingewöhnungsphase. Es gebe da die Coolen, die ihre Kinder, die dann interessanterweise meist auch recht cool sind, abliefern, herzhaft drücken, im Rausgehen winken und weg sind. Es gebe aber auch jene, die sich partout nicht trennen können, im Vorzimmer ausharren und mit dem Abschied mindestens ebenso kämpfen wie ihre Sprösslinge. Immer wieder fällt man einander in die Arme, es wird gebusselt und gestreichelt. Das soll/kann/darf rund drei, vier Wochen dauern. Aber nicht deutlich länger. Ein Glück, dass die Chefin eine ist, die immer die Ruhe bewahrt, die immer erklärt und vermittelt, abwartet und sachte voranschreitet. Eine, die immer Verständnis dafür hat, dass der erste Trennungsprozess eine verdammt harte Sache sein kann. Es läutet. Wenig später steht J. im Raum. Und grinst den Lehrling an. Der Lehrling grinst zurück. Hm, und jetzt? Spielen. Das Kindermatador steht schon auf dem Tisch und wird sogleich in Beschlag genommen. Die Chefin fragt im Flüsterton, ob der Lehrling möglicherweise noch etwas nicht bedacht habe. J. ist zweieinhalb und benötigt daher noch – richtig, Windeln! So wie übrigens die anderen vier auch, die im selben Alter sind. Der Lehrling meint, verdammt, hätten wir doch im Supermarkt welche gekauft. Frau Chefin schüttelt den Kopf. Windeln und Feuchttücher, zwei unzertrennliche Freunde, würden von den Eltern angeliefert. J. sitzt still und brav am Tisch, dreht, steckt, schraubt. Und grinst. So brav, so leise, freut sich der Lehrling. Abwarten, kichert die Chefin, bis alle da sind. Der Geräuschpegel steige pro Ankömmling. Da läutet es abermals. E. kommt. E. sei der Aufgeweckteste, ein richtiger Vifzack für sein Alter und Fremden gegenüber völlig unerschrocken. E. stellt sich mitten ins Zimmer, als wäre es immer schon seines gewesen, mustert den Lehrling und fragt die Chefin: „Wer ist denn der da?“Der Lehrling schnappt nach Luft. Man bedenke: Für langatmige Erklärungen hat E. weder Zeit noch Lust. Viel wichtiger ist, was es zum Mittagessen gibt. Und dass man J. sogleich die Welt erklären müsse.
Die Chefin lacht, auch wegen ihres Lehrlings, der etwas verloren herumsteht. Gebraucht fühlt er sich im Moment eher weniger. Psst, sagt die Chefin, und winkt ihn zu sich. L., der gleich kommt, habe bald Geburtstag. Außerdem sei es Zeit für ein Sommerthema in puncto Bastelei. Schon eine Idee? Dem Lehrling schwirrt etwas der Kopf. Apfelspalten schneiden und Butterbrote schmieren. Das bringt einen runter. Die Plastiktellerchen stehen schon bereit. Die Chefin zeigt auf das Obstmesser, das auf der Kredenz liegt, und deutet: Ist in Griffweite, weg damit!
Dann kommen noch der A. und die F. Es wird gejausnet. Anschließend werden Hände und Münder gereinigt und die Brösel vom Boden gewischt. Na gut, ab ins Freie! Zehn kleine Schuhe müssen auf zehn kleine Füße. Der Lehrling möge sich das einmal im Winter vorstellen, sagt die Chefin, wenn noch Mäntel, Schals, Hauben und Fäustlinge hinzukämen.
Es ist 10 Uhr. Eine Pause könnte der Lehrling jetzt gut vertragen, doch seine „Vorgesetzten“sind da gänzlich anderer Meinung. Sie werden jetzt noch knapp zwei Stunden draußen herumtoben (einschmieren nicht vergessen!), bis sie hungrig über ihre Nudeln mit Soße herfallen, um dann ein hochverdientes Mittagsschläfchen zu halten.
Was man als Tagesvater in spe inzwischen erledigt? Aufräumen, abwaschen, Pläne wälzen, Papierkram erledigen, Termine für die Eltern vorbereiten, Abrechnung machen. Für die Chefin ist das alles dennoch ein bisserl Zeit für sich selbst. Denn um 15 Uhr, wenn die Fünferbande das Weite sucht, kommen schon die nächsten Kinder: die eigenen.