Zum Abschied ertrotzt das Buch Handarbeit
Bibliophile Fingerspitzen. Bevor der Inhalt von den gedruckten Seiten ins Digitale aufgeht, ist noch einmal viel manuelle Behutsamkeit nötig – um zu spüren, zu tasten, zu glätten und zu blättern.
Das Bewältigen der Schwelle vom Buch zum Datensatz erfordert ein erstaunliches Ausmaß dessen, was demnächst obsolet sein wird: Handarbeit. Offenbar ertrotzen sich die bibliophilen Handbewegungen ein Abschiedsfest: das Spüren von Papier, das Ertasten von Kanten, das Umblättern, die Behutsamkeit mit Buchrücken, das Glattstreichen, das Vermeiden von Eselsohren. Sogar das Gefühl, das Studierende der 1980er-Jahre – in der Hochzeit der Kopiergeräte – oft in die Nähe der Ohnmacht getrieben hat, stellt sich ein: das Doppelseite um Doppelseite wiederkehrende Warten, bis die Maschine, die langsamer werkt als der sie bedienende Mensch, das auf ihr liegende Schriftbild eingelesen hat. Eigentlich ist der geduldige, konzentrierte Mitarbeiter am Scanner in der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) in einem Endspurt, wenn er nun ein Buch aus der Kaiserlich-Königlichen Hofbibliothek Seite um Seite auf das Gerät der Marke Cobra legt. Cobra? Tatsächlich prangt das Sujet der Giftschlange mit gespreiztem Nacken zwischen den oberen Flügeln des Scanners. Doch der Schreck ist umsonst. Das Gerät ist weder gefährlich noch giftig. Dass seine Frontalansicht ein wenig an die wendige Natter erinnert, soll offenbar die Klobigkeit des Scanners wettmachen. An Geräten wie diesem wird an einem der größten, revolutionären und deshalb zu Beginn umstrittenen Digitalisierungsprojekte gearbeitet. „Heuer im Frühherbst werden wir damit fertig“, kündigt Generaldirektorin Johanna Rachinger an. Unter dem Schlagwort „Austria Book Online“sind 600.000 urheberrechtsfreie Werke der Österreichischen Nationalbibliothek seit 2001 gemeinsam mit Google eingescannt worden. Die ÖNB stellt die Bücher zur Verfügung, Google hat die meisten davon nach Bayern transportiert, dort – mit ähnlichem Handarbeitsaufwand wie hier am Heldenplatz in Wien – gescannt und dann retourniert; nur einige Tausend Bücher werden hier an der Cobra im zweiten Stock der Neuen Burg digitalisiert. Der Ertrag wird geteilt: Google wie ÖNB – und deren Partner wie der Bibliothekenverbund Europeana – stellen die Inhalte gratis abrufbar auf ihre jeweiligen Webseiten. Übrigens hat die Bayerische Nationalbibliothek zeitgleich mit den Österreichern einen ähnlichen Vertrag mit Google umgesetzt.
„Gratis abrufbar“heißt: Jeder des Lesens, eines Computers und des Internets Mächtige kann darin so schmökern, als hätte er den Text seinem Bücherregal entnommen. Was vor zehn Jahren wie ein Traum geklungen hat, ist in der Realität angekommen: Der urheberrechtsfreie Bestand öffentlicher Bibliotheken ist von jedem Schlafzimmerpolster und jeder Luftmatratze aus verfügbar. Damit ist mehr als das aufklärerische Ideal erfüllt, mit dem Kaiser Karl VI. den Prunksaal als für alle Bürger zugängliche Bibliothek hat bauen lassen. Denn nun dürfen sogar Faule und Schwänzer, denen der Kaiser einst den Zutritt zum Saal mit dem kostbaren Lesestoff hat verwehren wollen, zugreifen.
Allerdings wird man beim Jubel über die Digitalisierung stutzig. Gepriesen wird die voranschreitende „Demokratisierung des Wissens“. Aber besteht der Schatz in Büchern bloß aus Wissen und Wissenschaft oder auch aus Poesie und Erzählung? Und: Ist die Tag und Nacht überall abrufbare Masse an Texten tatsächlich der Demokratie förderlich? Korrespondiert die Zunahme an Verfügbarkeit von Gedichten, Romanen und wissenschaftlichen Werken mit ihrer Nutzung und folglich mit intensivierter Bildung?
Mittlerweile jedenfalls ist der gesamte Inhalt des Prunksaals der Österreichischen Nationalbibliothek digital erfasst, also etwa 200.000 von 1501 bis 1850 erschienene Bücher, darunter die 15.000 Bände der Bibliothek von Prinz Eugen. Und die Cobras und das sie kommandierende Personal haben sich derweil bis zum Erscheinungsjahr 1879 gerobbt, sie nähern sich also dem Ende des 19. Jahrhunderts.
Im Herbst wird der bisherige Altbestand gescannt sein, was dreifachen Nutzen eröffnet: Erstens die Verfügbarkeit immer und überall; zweitens bleiben die Inhalte auch erhalten, wenn der bisherige Träger, das Papier, durch Feuer, Wasser oder Zerfall beschädigt werden sollte; und drittens kann das verletzliche Papier geschont werden. So löst sich ein gordischer Knoten der Bibliothekare: Bei zunehmender Nutzungen bleibt das Original bewahrt.
Auch nach Herbst 2018 wird – möglicherweise in einer mit Google verlängerten Partnerschaft – weiter eingescannt, allerdings nur jene zusätzlichen Bücher, die das Losungswort für den Eintritt in die freie, neue Welt erfüllen: „urheberrechtsfrei“. Der Autor muss also zumindest siebzig Jahre tot sein. Alles andere darf gescannt, aber nicht kostenlos bereitgestellt werden; für Nutzungen sind Rechte abzugelten. Folglich bleibt für den Großteil der Literatur des 20. Jahrhunderts die absehbare Bibliothekszukunft so papieren wie bisher: Regal, Ausleihe und Lesesaal. Auch an Zuwachs auf Papier fehlt es nicht: Jedes Jahr kommen zu bisher 3,6 Millionen großteils im vierstöckigen Speicher unter der Burggarten-Terrasse gelagerten Bücher etwa 30.000 Neuerscheinungen hinzu. Daher drängt Johanna Rachinger seit Jahren auf den Bau eines Tiefenspeichers unter dem Heldenplatz. Da nun das Parlament in Containern hierhergezogen ist, muss der Buchspeicher warten. Während neben neuem Regalplatz für Papier auch neuer Serverplatz für Scans geschaffen und betreut werden muss, bringt die Digitalisierung noch weitere Aufgaben. Denn ein Scanner kann nur ein Schriftbild erfassen. Dieses muss noch als Text erkenntlich werden. Das bewältigt bereits eine Software. Dann ist zwar eine Volltextsuche möglich, doch längst ist klar, dass auch dies so viel weiterhilft wie ein unsortierter Bücherhaufen. „Wir bauen an einem semantischen Web“, sagt Johanna Rachinger. Daten sollen also miteinander verknüpfbar oder mit Zusatzinformationen angereichert werden. Was das bedeuten kann, macht die ÖNB mit Postkarten vor: Über das Portal AKON sind etwa 75.000 historische Ansichtskarten nicht nur digitalisiert, sondern man kann über eine Landkarte verschiedene Ortsansichten abrufen. Aus noch einem Grund ist „Austria Books Online“nur der Anfang der Digitalisierung. Die Nationalbibliothek betreut noch anderes auf Papier, was nicht als Buch gilt – Zeitungen, Manuskripte, Landkarten und Musikalien. Die werden ohne Google-Partnerschaft digitalisiert. Vorbildlich dafür ist das Portal ANNO. Darin sind österreichische Zeitungen von 1689 bis 1947 durchsuchbar. Wann kommt der Rest? Entzückende Frage! In bisher fünfzehnjähriger ScanArbeit ist bis 1947 knapp ein Zehntel der Titel der bis in die Gegenwart erschienenen Periodika erfasst. Auf die Cobras wartet also noch viel Futter. Und so haben auch jene Tausenden Zeitungsbände ein Zukunftspotenzial, die bei 18 bis 20 Grad Celsius, 45 bis 50 Prozent Luftfeuchtigkeit und bewacht von Dutzenden Stahlflaschen voll Inergen-Gas unter dem Burggarten auf Leser harren. Wandelt man durch diese kargen Hallen, fällt auf: Seit Erfindung des Buchdrucks wurden Gedanken auf und in Rechtecken festgehalten: Seiten, Bände, Boxen, Regale. Diese rechtwinkelige Ordnung bricht mit der Digitalisierung auf.