In keinem Fach brauchen Schüler so viel Nachhilfe wie in Mathematik. Kein Fach ist so angstbesetzt. Muss das sein?
Die Angst vor der Mathematik. Nie war die Aufregung um die Mathe-Matura größer als jetzt. Tausende Schüler fühlen sich ungerecht behandelt. Eltern geben zig Millionen für das Zitterfach aus.
Die lange Wartezeit ist ein Killer für die Lernmotivation. Konstantin Moritz Maturant
Miriam Böhm (18) fühlt sich ungerecht behandelt – wie Tausende Maturantinnen und Maturanten, die bei der Mathe-Zentralmatura schlecht oder negativ abgeschnitten haben. Die 18-jährige Schülerin der Modeschule Hallein ist durchgefallen. „In der schriftlichen Mathe-Matura fiel bei uns jede zweite Schülerin durch.“Die Lehrer hätten ihre Klassen nicht gut genug vorbereitet, ganz zu schweigen von der Technik. „Wir mussten mit der Hand schreiben und hatten nur den Taschenrechner zur Verfügung, weil es bei uns das Geogebra-System nicht gibt“, sagen Miriam und ihre Klassenkolleginnen.
Deprimierend sei es, sich monatelang auf die Matura vorzubereiten und dann nicht antreten zu dürfen, erzählt der 18-jährige Konstantin Moritz aus Salzburg. Ende April erfuhr der Achtklassler am BG Nonntal, dass er in Mathematik einen Fünfer im Jahreszeugnis bekommt. „Ich hatte alles für meine Matura vorbereitet.“Nun muss er mit der gesamten Matura bis September warten. „In viereinhalb Monaten vergisst man doch den ganzen Stoff“, meint Konstantin. Die lange Wartezeit sei „ein Killer für die Lernmotivation“. Warum er Mathematik nicht geschafft habe? Konstantin zuckt mit den Schultern. Obwohl er hobbymäßig programmiere, sei das Schulfach Mathematik richtig schwer. Die Wartezeit vermiese ihm, der ab Herbst Wirtschaft und Recht studieren wolle, den Sommer. „Ich muss mein ganzes Maturawissen aufrechterhalten. Früher hätte ich mit meiner Klasse maturiert und dann den Nachzipf gemacht.“
Miriam und Konstantin sind nicht allein in der Warteschlange. „Das ist für viele Maturanten eine Stresssituation“, sagt Lena Milacher, Bundesgeschäftsführerin der Schülerunion. „Früher war es möglich, mit einem Fünfer im Abschlusszeugnis zur Matura anzutreten.“Jetzt müsse man die gesamte Matura im Herbst nachholen. Wer in der Mathe-Warteschlange hängt, hat mitunter auch Nachteile beim Studienbeginn: Je später man dran ist, desto schwieriger wird es in begehrten Studienrichtungen, die gewünschten Kurse belegen zu können.
Knapp 43.000 Schülerinnen und Schüler traten zur Mathe-Zentralmatura an. Nach einer ersten Auswertung wurden rund 18 Prozent der Schüler negativ bewertet – wobei nur um die zehn Prozent der Schulen abgefragt wurden. Über die Kompensationsprüfung konnten viele ihre negativen Noten noch ausbessern. Endgültige Ergebnisse sollen Ende Juni vorliegen.
In Mathematik gibt es traditionell die meisten Fünfer: 2016 waren – nach den Kompensationsprüfungen – 6,9 Prozent der AHS-Schüler und 4,8 Prozent der BHS-Schüler negativ. 2017 waren es 4,8 Prozent bzw. 3,5 Prozent. Ein Hauptproblem heuer war, dass bei der AHS-Zentralmatura in Mathematik viele Angaben in lange Sätze verpackt waren. Offenbar seien viele an den „sprachlastigen Texträtseln“gescheitert, heißt es von Elternseite. Kritisiert wird auch, dass alle Gymnasiasten die gleiche Maturaprüfung absolvieren mussten – obwohl die Zahl der Mathe-Stunden, je nach AHS-Typ, unterschiedlich hoch ist.
„Mathematik ist schwerer geworden. Es ist ein Zitterfach“, sagt Salzburgs Landesschulsprecher Maximilian Aichinger. Manuel Pirker, als BRG-Maturant ebenfalls in der Landesschülervertretung, nennt es eine „Schande“, wie schlecht viele Schulen technisch ausgestattet seien. In Mathematik hätten die Schüler deswegen schriftlich extrem unterschiedliche Chancen. Pirker: „Während manche Schulen Geogebra seit Beginn der Oberstufe in ihren Unterricht integrieren, gibt es an anderen dafür gar nicht die nötigen Computer.“Oder die Lehrer kennen sich selbst mit dem Programm nicht aus, wie Pirker sagt. Auch brächten etliche Lehrer zu wenig Zeit für die richtige Vorbereitung ihrer Klassen auf. „Zum Beispiel, wie man aus komplizierten Aufgaben herausliest, was zu berechnen ist.“Was alle drei Schülervertreter fordern: Bessere Lehrerfortbildung und flächendeckende Computerausstattung, damit es endlich wieder aufwärtsgehe im Zitterfach Mathematik.
Die Angst, in Mathematik durchzufallen, trieb in den vergangenen Wochen besonders viele Schüler in die Nachhilfeinstitute. In diesem Jahr sei der Ansturm enorm gewesen, sagt Konrad Zimmermann. Der ehemalige HTL-Lehrer für Chemie, Maschinenbau und EDV leitet das Nachhilfeinstitut LernQuadrat mit 80 Standorten in ganz Österreich. „Wir hielten im April so viele Stunden in Mathematik wie noch nie. Wir haben Tag und Nacht und an den Wochenenden unterrichtet.“
Schätzungsweise 100 Millionen Euro geben die Österreicher pro Jahr für Nachhilfe aus. Laut der ein Mal jährlich erscheinenden Nachhilfe-Studie der Arbei- terkammer entfallen mehr als 60 Prozent davon auf Mathematik. „Wir wissen seit mindestens 40 Jahren, dass Mathematik die meisten Nachhilfestunden erfordert, und niemand tut etwas dagegen“, sagt Zimmermann. Mathematik werde in der Schule meistens zu wenig anschaulich – und mit zu wenig Begeisterung – vermittelt. „Die Kinder fragen sich, wofür sie das brauchen.“Dabei wäre es ganz einfach zu erklären, meint Zimmermann und verweist auf die Kreiszahl Pi: „Man nehme ein Seil, lege es zu einem Kreis. Und wenn man es dann der Länge nach auflegt, ist es 3,14 mal so lang wie der Durchmesser.“
Derzeit ist Mathematik mehr ein Angst- als ein Begeisterungsfach. Warum? „Es ist natürlich ein fachspezifisches Problem, weil Mathematik große Genauigkeit erfordert“, sagt Andreas Lindner, Fachdidaktiker an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich und Leiter der ARGE Mathematik für AHS in Oberösterreich. Ein Teil des Problems liege aber in der Vermittlung. Es sei problematisch, wenn das Fach zum Disziplinieren im Unterricht oder zum Selektieren in den ersten Semestern diverser Studienrichtungen missbraucht werde. Dabei könnte man Schüler durchaus für das Fach begeistern – sobald diese den Sinn hinter den Aufgaben verstünden, sagt Lindner.
Mathematik-Lehrer bräuchten einiges an Erfahrung, um die komplexen Inhalte allen Schülern zu vermitteln, betont Karl Entacher, Lektor an der FH Salzburg und Mathematik-Lehrer am Holztechnikum in Kuchl. „Die große Kunst ist es, so zu erklären, dass es jeder versteht.“Die Schüler wiederum müssten immer am Ball bleiben. „Mathematik ist wie eine Sprache, es gibt sehr viele Vokabeln und eine manchmal etwas komplexe Grammatik. Die mathematischen Inhalte sind aufbauend. Das heißt: Es funktioniert einfach nicht, wie in anderen Fächern, kurz vor der Schularbeit zu lernen und dann wieder alles zu vergessen.“Was die Zentralmatura betreffe, dürfe das Niveau aber nicht weiter sinken, sagt der Pädagoge, der auch bei der Entwicklung von Übungsbeispielen mitgewirkt hat. „Ich bin der Meinung, dass wir eindeutig eine Talsohle des Niveaus erreicht haben.“
Schülerin Miriam Böhm dagegen sieht Fehler im Schulsystem. „Ich hatte immer Mathe-Nachhilfe und habe mich für die Matura extrem gut vorbereitet.“In der Warteschlange zu hängen – „für mich ist das blöd“. Sie habe ganz bewusst die Matura mit dem Ausbildungsschwerpunkt Mode machen wollen. „Und jetzt muss ich mich mit Mathe aufhalten.“