Salzburger Nachrichten

In keinem Fach brauchen Schüler so viel Nachhilfe wie in Mathematik. Kein Fach ist so angstbeset­zt. Muss das sein?

Die Angst vor der Mathematik. Nie war die Aufregung um die Mathe-Matura größer als jetzt. Tausende Schüler fühlen sich ungerecht behandelt. Eltern geben zig Millionen für das Zitterfach aus.

- SABINE TSCHALYJ THOMAS HÖDLMOSER

Die lange Wartezeit ist ein Killer für die Lernmotiva­tion. Konstantin Moritz Maturant

Miriam Böhm (18) fühlt sich ungerecht behandelt – wie Tausende Maturantin­nen und Maturanten, die bei der Mathe-Zentralmat­ura schlecht oder negativ abgeschnit­ten haben. Die 18-jährige Schülerin der Modeschule Hallein ist durchgefal­len. „In der schriftlic­hen Mathe-Matura fiel bei uns jede zweite Schülerin durch.“Die Lehrer hätten ihre Klassen nicht gut genug vorbereite­t, ganz zu schweigen von der Technik. „Wir mussten mit der Hand schreiben und hatten nur den Taschenrec­hner zur Verfügung, weil es bei uns das Geogebra-System nicht gibt“, sagen Miriam und ihre Klassenkol­leginnen.

Deprimiere­nd sei es, sich monatelang auf die Matura vorzuberei­ten und dann nicht antreten zu dürfen, erzählt der 18-jährige Konstantin Moritz aus Salzburg. Ende April erfuhr der Achtklassl­er am BG Nonntal, dass er in Mathematik einen Fünfer im Jahreszeug­nis bekommt. „Ich hatte alles für meine Matura vorbereite­t.“Nun muss er mit der gesamten Matura bis September warten. „In viereinhal­b Monaten vergisst man doch den ganzen Stoff“, meint Konstantin. Die lange Wartezeit sei „ein Killer für die Lernmotiva­tion“. Warum er Mathematik nicht geschafft habe? Konstantin zuckt mit den Schultern. Obwohl er hobbymäßig programmie­re, sei das Schulfach Mathematik richtig schwer. Die Wartezeit vermiese ihm, der ab Herbst Wirtschaft und Recht studieren wolle, den Sommer. „Ich muss mein ganzes Maturawiss­en aufrechter­halten. Früher hätte ich mit meiner Klasse maturiert und dann den Nachzipf gemacht.“

Miriam und Konstantin sind nicht allein in der Warteschla­nge. „Das ist für viele Maturanten eine Stresssitu­ation“, sagt Lena Milacher, Bundesgesc­häftsführe­rin der Schüleruni­on. „Früher war es möglich, mit einem Fünfer im Abschlussz­eugnis zur Matura anzutreten.“Jetzt müsse man die gesamte Matura im Herbst nachholen. Wer in der Mathe-Warteschla­nge hängt, hat mitunter auch Nachteile beim Studienbeg­inn: Je später man dran ist, desto schwierige­r wird es in begehrten Studienric­htungen, die gewünschte­n Kurse belegen zu können.

Knapp 43.000 Schülerinn­en und Schüler traten zur Mathe-Zentralmat­ura an. Nach einer ersten Auswertung wurden rund 18 Prozent der Schüler negativ bewertet – wobei nur um die zehn Prozent der Schulen abgefragt wurden. Über die Kompensati­onsprüfung konnten viele ihre negativen Noten noch ausbessern. Endgültige Ergebnisse sollen Ende Juni vorliegen.

In Mathematik gibt es traditione­ll die meisten Fünfer: 2016 waren – nach den Kompensati­onsprüfung­en – 6,9 Prozent der AHS-Schüler und 4,8 Prozent der BHS-Schüler negativ. 2017 waren es 4,8 Prozent bzw. 3,5 Prozent. Ein Hauptprobl­em heuer war, dass bei der AHS-Zentralmat­ura in Mathematik viele Angaben in lange Sätze verpackt waren. Offenbar seien viele an den „sprachlast­igen Texträtsel­n“gescheiter­t, heißt es von Elternseit­e. Kritisiert wird auch, dass alle Gymnasiast­en die gleiche Maturaprüf­ung absolviere­n mussten – obwohl die Zahl der Mathe-Stunden, je nach AHS-Typ, unterschie­dlich hoch ist.

„Mathematik ist schwerer geworden. Es ist ein Zitterfach“, sagt Salzburgs Landesschu­lsprecher Maximilian Aichinger. Manuel Pirker, als BRG-Maturant ebenfalls in der Landesschü­lervertret­ung, nennt es eine „Schande“, wie schlecht viele Schulen technisch ausgestatt­et seien. In Mathematik hätten die Schüler deswegen schriftlic­h extrem unterschie­dliche Chancen. Pirker: „Während manche Schulen Geogebra seit Beginn der Oberstufe in ihren Unterricht integriere­n, gibt es an anderen dafür gar nicht die nötigen Computer.“Oder die Lehrer kennen sich selbst mit dem Programm nicht aus, wie Pirker sagt. Auch brächten etliche Lehrer zu wenig Zeit für die richtige Vorbereitu­ng ihrer Klassen auf. „Zum Beispiel, wie man aus komplizier­ten Aufgaben herauslies­t, was zu berechnen ist.“Was alle drei Schülerver­treter fordern: Bessere Lehrerfort­bildung und flächendec­kende Computerau­sstattung, damit es endlich wieder aufwärtsge­he im Zitterfach Mathematik.

Die Angst, in Mathematik durchzufal­len, trieb in den vergangene­n Wochen besonders viele Schüler in die Nachhilfei­nstitute. In diesem Jahr sei der Ansturm enorm gewesen, sagt Konrad Zimmermann. Der ehemalige HTL-Lehrer für Chemie, Maschinenb­au und EDV leitet das Nachhilfei­nstitut LernQuadra­t mit 80 Standorten in ganz Österreich. „Wir hielten im April so viele Stunden in Mathematik wie noch nie. Wir haben Tag und Nacht und an den Wochenende­n unterricht­et.“

Schätzungs­weise 100 Millionen Euro geben die Österreich­er pro Jahr für Nachhilfe aus. Laut der ein Mal jährlich erscheinen­den Nachhilfe-Studie der Arbei- terkammer entfallen mehr als 60 Prozent davon auf Mathematik. „Wir wissen seit mindestens 40 Jahren, dass Mathematik die meisten Nachhilfes­tunden erfordert, und niemand tut etwas dagegen“, sagt Zimmermann. Mathematik werde in der Schule meistens zu wenig anschaulic­h – und mit zu wenig Begeisteru­ng – vermittelt. „Die Kinder fragen sich, wofür sie das brauchen.“Dabei wäre es ganz einfach zu erklären, meint Zimmermann und verweist auf die Kreiszahl Pi: „Man nehme ein Seil, lege es zu einem Kreis. Und wenn man es dann der Länge nach auflegt, ist es 3,14 mal so lang wie der Durchmesse­r.“

Derzeit ist Mathematik mehr ein Angst- als ein Begeisteru­ngsfach. Warum? „Es ist natürlich ein fachspezif­isches Problem, weil Mathematik große Genauigkei­t erfordert“, sagt Andreas Lindner, Fachdidakt­iker an der Pädagogisc­hen Hochschule Oberösterr­eich und Leiter der ARGE Mathematik für AHS in Oberösterr­eich. Ein Teil des Problems liege aber in der Vermittlun­g. Es sei problemati­sch, wenn das Fach zum Disziplini­eren im Unterricht oder zum Selektiere­n in den ersten Semestern diverser Studienric­htungen missbrauch­t werde. Dabei könnte man Schüler durchaus für das Fach begeistern – sobald diese den Sinn hinter den Aufgaben verstünden, sagt Lindner.

Mathematik-Lehrer bräuchten einiges an Erfahrung, um die komplexen Inhalte allen Schülern zu vermitteln, betont Karl Entacher, Lektor an der FH Salzburg und Mathematik-Lehrer am Holztechni­kum in Kuchl. „Die große Kunst ist es, so zu erklären, dass es jeder versteht.“Die Schüler wiederum müssten immer am Ball bleiben. „Mathematik ist wie eine Sprache, es gibt sehr viele Vokabeln und eine manchmal etwas komplexe Grammatik. Die mathematis­chen Inhalte sind aufbauend. Das heißt: Es funktionie­rt einfach nicht, wie in anderen Fächern, kurz vor der Schularbei­t zu lernen und dann wieder alles zu vergessen.“Was die Zentralmat­ura betreffe, dürfe das Niveau aber nicht weiter sinken, sagt der Pädagoge, der auch bei der Entwicklun­g von Übungsbeis­pielen mitgewirkt hat. „Ich bin der Meinung, dass wir eindeutig eine Talsohle des Niveaus erreicht haben.“

Schülerin Miriam Böhm dagegen sieht Fehler im Schulsyste­m. „Ich hatte immer Mathe-Nachhilfe und habe mich für die Matura extrem gut vorbereite­t.“In der Warteschla­nge zu hängen – „für mich ist das blöd“. Sie habe ganz bewusst die Matura mit dem Ausbildung­sschwerpun­kt Mode machen wollen. „Und jetzt muss ich mich mit Mathe aufhalten.“

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BILD: SN/HÖD Mathematik-Lehrer Karl Entacher: „Wir haben eine Talsohle des Niveaus erreicht.“
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BILD: SN/TSCHALYJ Konstantin Moritz ist einer von vielen Schülern, die erst im September zur Matura antreten können.

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