Herausforderer wollen Erdo˘gans Diplom sehen
Der Präsident der Türkei muss laut Verfassung studiert haben. Bei Erdoğan bestehen Zweifel.
Dutzende Ehrendoktortitel besitzt der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan. Aber hat er überhaupt studiert? Diese Frage beschäftigte die Türkei schon 2014, als Erdoğan erstmals zum Präsidenten gewählt wurde. Denn das höchste Staatsamt kann nur bekleiden, wer mindestens vier Jahre an einer Universität studiert und einen Abschluss vorzuweisen hat. So bestimmt es die türkische Verfassung. In der Endphase des Präsidentenwahlkampfs kommt das Thema nun wieder hoch: Erdoğan soll sein Diplom präsentieren, fordert der Kurdenpolitiker Selahattin Demirtaş, der in Untersuchungshaft kandidiert.
Demirtaş hat ein Jus-Staatsexamen. Muharrem Ince, Präsidentschaftskandidat der Oppositionspartei CHP, besuchte im Wahlkampf seine Alma Mater im westtürkischen Balikesir und verteilte Kopien seines Diploms. Er ist Chemieund Physiklehrer. Auch die Erdoğan-Konkurrentin Meral Akşener, selbst promovierte Soziologin, fordert den Präsidenten heraus: „Du hast kein Diplom? Du hast keine Universität besucht? Dann lass wenigstens unsere Jugend studieren!“– eine Anspielung auf die umstrittene, immer stärker konservativ-islamisch geprägte Bildungspolitik der Erdoğan-Partei AKP.
Schon 2014 versuchte Erdoğan das unbequeme Thema zu beenden. Er präsentierte damals die Kopie eines „temporären“Diploms der Istanbuler Akademie für Wirtschaft und Handel aus dem Jahr 1981. Zwei Jahre später tauchte ein neues Dokument auf: ein Diplom der Fakultät für Ökonomie und Verwaltungswissenschaften der Istanbuler Marmara-Universität, auch von 1981.
Das Papier warf aber neue Fragen auf. Denn die Marmara-Universität wurde erst 1982 gegründet. Die Fakultät, an der Erdoğan 1981 seinen Abschluss gemacht haben will, existiert sogar erst seit 1983.
Nachdem in der Öffentlichkeit Zweifel an der Echtheit des Dokuments aufkamen, tauchte ein drittes Diplom auf – wieder von der Marmara-Universität, wieder von 1981. Grafiker stellten fest, dass es in einer Schriftart verfasst ist, die von der Firma Microsoft erst 2005 auf den Markt gebracht wurde. Und es fehlen die Unterschriften des Dekans und des Rektors. Außerdem führten die Istanbuler Verkehrsbetriebe Erdoğan zu der Zeit, in der er an der noch gar nicht existierenden Marmara-Universität studiert haben will, als Vollzeitbeschäftigten.
Der Staatschef kann der Kontroverse trotzdem gelassen zusehen. Kein türkisches Gericht wird es wagen, ihm wegen des fehlenden Abschlusses sein Amt abzuerkennen. Außerdem hat der Oberste Wahlrat der Türkei am 30. April die Präsidentschaftskandidaten von der Verpflichtung entbunden, ihr Universitätsdiplom vorzulegen.