Leid und Taubheit lassen sich tanzen
ELISABETH STUPPNIG
Eine androgyne kleine Frau bewegt sich – flüssig, langsam. Ihr Körper drückt aus: Sie leidet. Für die Uraufführung von „KARL-TAUBHEIT-selbermorden-BEETHOVEN“schlüpft diese Tänzerin in die Rolle von Ludwig van Beethovens Neffen Karl. Einmal tänzelt sie leichtfüßig, dann kantig und abgehackt, dann krümmt sie sich vor Schmerz.
Intendant Otto Brusatti hat sich für sein drittes Badener Beethoven Festival etwas Besonderes ausgedacht. Mit der Choreografin Sungok Choi erarbeitete er ein Sprechmusiktheatertanzstück, das die seelischen und körperlichen Leiden Beethovens und seines Neffen Karl thematisiert. „Heuer wollte ich etwas ganz anderes machen“, sagt Brusatti zur Wahl des Hauptstückes. „Ein Sommerfestival ist ein Gröscherlg’schäft, aber dafür kann ich machen, was ich will. So lange man mich lässt, tobe ich mich aus.“
Die Zeitreise führt ins Jahr 1815 – zum Tod von Kaspar Karl Beethoven. Dessen Bruder Ludwig, der unter Taubheit litt, übernahm die Vormundschaft für seinen Neffen Karl. Er nahm diese Aufgabe ernst. Ein Musiker sollte aus Karl werden. Er ließ ihn von seinem Schüler Carl Czerny unterrichten und erkannte, dass Karl jegliches Talent fehlte. Er sah ihn ab da in einer wissenschaftlichen Karriere. Karl jedoch, regelrecht erdrückt von der Aufmerksamkeit seines Onkels, wollte sich das Leben nehmen. Sein Suizidversuch unter der Ruine Rauhenstein im Badener Helenental scheiterte.
Diese Geschichte hat den Radiomoderator, Ö1-Moderator und Musikwissenschafter Otto Brusatti fasziniert: „Beethoven war geradezu besessen von seinem Neffen“, sagt er. „Ich dachte: Diese Geschichte muss ich erzählen. Am besten am Ort des Geschehens.“
Gebückt und gebrochen erscheint der von der Tänzerin Jina Jung personifizierte Karl, als er das Podium auf der Wiese unterhalb der Ruine Rauhenstein betritt. Mit Beethovens Neunter Sinfonie beginnt die Musikcollage, die Brusatti für den ersten Teil von „KARLTAUBHEIT-selbermorden-BEETHOVEN“zusammengestellt hat. Das „Gloria“aus Beethovens „Missa Solemnis“sowie Stücke von Gustav Mahler und Joseph Lanner ertönen. Die Beschallung kommt großteils von der CD.
Schauspieler Bernhard Majcen liest aus Georg Trakls Angstgedichten, führt in die Geschichte ein und wird im Lauf der anderthalb Stunden unter anderem Beethoven verkörpern. Mit Bernhard Majcen und den drei Tänzern der koreanischen Gruppe Meta Dance Project steht auch eine Geigerin auf der Bühne: Catherine Lee musiziert Paganinis Capricen und unterbricht mit Soloeinwürfen. Zudem übernimmt sie die Rolle des Todes und reicht dem Neffen die Waffe.
Während Otto Brusatti für den ersten Teil verschiedene Hits zu Musikcollagen zusammengefügt hat, erklingt im zweiten Teil beinahe ohne Unterbrechung Beetho- vens Streichquartett Nr. 14 in cisMoll. Ein halbes Jahr vor seinem Tod stellte er sein größtes und letztes Quartett fertig, das er Feldmarschallleutnant Joseph von Stutterheim widmete. Der nahm sich Karls nach dessen Suizidversuch an und betreute ihn während dessen Zeit im Militär.
Das Streichquartett sei perfekt für diese Geschichte, sagt Otto Brusatti. Es veranschauliche die verworrenen Gefühlszustände des Komponisten. In sieben Sätzen findet sich darin ein Mix an Variationen, Tanzsätzen und Marschmusik. Auch Beethovens Taubheit, vom Komponisten mit Flageoletten hineinkomponiert, thematisiert das Ensemble mit akustischen Einwürfen, die den einen oder anderen Zuschauer überraschen werden. „Es wird kein schlüssiges und logisches Theater“, sagt Brusatti. Vielmehr sei dieses Experiment eine Versinnbildlichung verschiedener Stile, Emotionen und Ereignisse.
Neben „KARL-TAUBHEIT-selbermorden-BEETHOVEN“bietet das Festival in Baden einen Abend mit Bläserkammermusik zwischen „Beethoven, Schulhoff und U-Music-Classics“, und das bei freiem Eintritt „im Garten und auf den Veranden des Hauses Brusatti“, wie es in der Ankündigung heißt. Weiters gibt es je einen Abend mit Klaviermusik und Streichquartett.
Das nunmehr dritte Beethoven Festival in Baden ist kleiner als in den Vorjahren. Hat man 2017 noch sieben Orte in Baden bespielt, mit dem Anspruch, alle Beethoven-Klaviersonaten aufzuführen, beschränkt sich Otto Brusatti heuer auf vier Orte: neben der Tennisanlage Rauhenstein als Freilufttheater sind es das Haus Brusatti, die Helenenkirche und das Haus der Kunst.
Wie soll es mit seinem Festival in Baden weitergehen? Da lacht Otto Brusatti. „Ich muss alle sechs bis sieben Jahre etwas Neues machen: Den Nobelpreis muss ich noch gewinnen und zum Papst muss ich noch gewählt werden – damit ich beides ablehnen kann.“ Tanztheater:
„Es wird kein logisches Theater.“