Die Rückkehr eines Dopingsünders
Zeitvermessung.
Wir lesen noch einmal Stefan Zweigs Buch „Die Welt von Gestern“und sind verblüfft: so viele Parallelen zur Gegenwart. Eine Ära der Prosperität, in der die Welt ins Wanken gerät und der Nationalismus triumphiert. Können wir aus einer wesensverwandten Zeit den Rückschluss ziehen, dass unsere Situation ähnlich ist? HELMUT L. MÜLLER
Weltverdichtung.
Stefan Zweig blickt in die Vergangenheit und sieht, dass sie gut war. Die Erinnerung gewinnt deshalb an Bedeutung, weil sie als Gegensatz beschworen wird zu einer außer Rand und Band geratenen Gegenwart, die Zweig ins Exil gedrängt hat. Das geht nicht ohne Gefühle ab.
ANTON THUSWALDNER
Stefan Zweig widmet drei Viertel seines Erinnerungsbuchs „Die Welt von Gestern“einem historischen Umbruch: Als das „goldene Zeitalter der Sicherheit“erscheinen ihm die Jahrzehnte um 1900. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs zerstört diese „geordnete Welt“einer „windstillen Zeit“. Das sei ein „wunderbar evokatives“Buch, das eine ganze Epoche heraufbeschwöre, urteilt heute der Historiker Philipp Blom. Auch weil es so schön geschrieben sei, sei es zu einem Standardwerk geworden. Menschen, die sich für diese Epoche interessierten, könnten zu diesem Buch greifen und sich denken: So war diese Zeit.
Immerhin war der, der sie beschreibt, ein Augenzeuge. Allerdings einer, wie Blom in unserem Gespräch betont, der zu der Zeit des Schreibens ein gebrochener Exilant war. Einer, der so sehr unter diesem Exil gelitten hat, dass er nicht lange danach in Brasilien sein Leben selbst beendet hat.
„Es ist ein sehr nostalgischer Rückblick auf eine Zeit, die beim Zurückschauen auch verklärt wird. Diese Zeit der Stabilität, als alles noch in Ordnung ist, ist laut anderen Zeitzeugenberichten überhaupt nicht so. Sie beschreiben vielmehr eine Zeit, in der nichts mehr sicher, sondern alles in Bewegung ist; in welcher man sich auf nichts mehr verlassen kann – und genau diese Phase stellt Zweig als eine Zeit des intakten Lebens dar.“
Aus der Sicht Zweigs war es eine akkurate Darstellung. Doch aus der späteren Sicht habe der Historiker vor allem hinzuzufügen, sagt Blom, dass es eine Darstellung des assimilierten und vermögenden jüdischen Bürgertums gewesen sei, also eines sehr kleinen Teils der Bevölkerung. Wenn man Bauern oder Arbeiter gefragt hätte, wie sie diese Zeit erfahren hätten, wäre ein ganz anderes Bild entstanden.
Der in Wien lebende Philipp Blom hat die Zeit um 1900 selbst in seinem Buch „Der taumelnde Kontinent“beschrieben. Was dafallen und heute parallel sei, erläutert er, sei die Tatsache, „dass es um zwei Perioden geht, in denen sich Technologien sehr sprunghaft entwickeln. Was heute Internet und Social Media, Big Data und Algorithmen sind, das waren damals Massenmedien und Massentransportmittel. Das Ansteigen der Industrialisierung bedeutete, dass die Menschen seinerzeit erstmals massenproduzierte Güter konsumierten. Ein riesiger Umschwung, der auch das politische und soziale System veränderte.“
Man kann Zweigs Buch als eine Mentalitätsstudie lesen, in welcher der Autor durch persönliche Episoden Zeitströmungen prägnant auf den Punkt bringt. So beobachtet er im Frühjahr 1914, wie in einem französischen Provinzkino die Zuschauer plötzlich johlen und schreien, als der deutsche Kaiser Wilhelm II. im Bild erscheint. Das ist für ihn ein Zeichen dafür, wie weit die Vergiftung durch die Hasspropaganda schon fortgeschritten ist. Anders als viele Autorenkollegen, die damals einen Lobpreis des Krieges anstimmen, kämpft Zweig gegen den Massenwahn des Krieges. Er setzt auf die Einigung Europas – ein Traum, der schon hier scheitert und später von Hitler vollends zerstört wird, wie Zweig im letzten Viertel seines Buchs darstellt.
Dennoch zögert Blom, Zweig deswegen als einen politisch hellsichtigen Autor zu apostrophieren. Es habe einfach zu viele politisch wichtige Themen gegeben, zu denen er als Schriftsteller in einer sehr privilegierten Situation „nichts oder wenig zu sagen hatte“– die Rolle der Arbeiter und des Sozialismus um die Jahrhundertwende, die Emanzipation der Frauen, der Kolonialismus. Das wohlhabende Wien, in dem Zweig groß geworden sei, sei von Fremdarbeitern erbaut worden, die in der „Welt von Gestern“unter jämmerlichsten Verhältnissen gelebt hätten. Der Philosophin Hannah Arendt, einer überaus kritischen Leserin, konnte man es nicht leicht recht machen. Stefan Zweig jedenfalls gelang es mit seinem Erinnerungsbuch „Die Welt von Gestern“gar nicht. Sie teilte das Schicksal des Verfassers, in die Emigration gezwungen worden zu sein, und übte in ihrer Rezension heftige Kritik daran, dass sich Zweig von Politik „vornehm ferngehalten“habe. Das stört eine so politische Beobachterin ihrer Zeit wie Hannah Arendt, für die vor das Fühlen immer noch das Denken kommt, gewaltig. Die Folge von Zweigs Haltung sei, schreibt sie, dass ihm der Nationalsozialismus „wie eine ungeheuerliche, unbegreifliche Naturkatastrophe“erschienen sei. In seinem Tagebuch fasste Thomas Mann Arendts Kritik zusammen, indem er meinte, sie habe dem Buch „Trostlosigkeit, ja, Läppischkeit“vorgeworfen. Analytisch ging Heinrich Mann, zehn Jahre älter als Zweig, vor, als er sich ans Schreiben seiner Memoiren machte, die 1946 unter dem Titel „Ein Zeitalter wird besichtigt“erschienen. Er geht weit über die eigenen Lebenserfahrungen hinaus, wenn er die Voraussetzungen seiner Gegenwart tief im 19. Jahrhundert verwurzelt sieht. Das Buch wirkt wie das intellektuelle Gegenstück zu Zweigs emotionaler Weltbetrachtung. Zweigs Prosa schmeichelt sich in das Bewusstsein des Lesers, macht ihn zum Komplizen des Verteidigers einer restlos verlorenen Zeit. Für Thomas Mann war Zweig der „auf Freundschaft gestellte Mensch“. Dagegen wirkt Heinrich Manns Stil spröde und ungeschmeidig, tritt energisch argumentierend auf, Geschichte wird verstehbar als Prozess, der sich rational nachvollziehen lässt. Zweig lässt sich hineinmals in das unwiederbringlich Entschwundene, Heinrich Mann bleibt der kühle Beobachter von außen, der Abstand wahrt.
„Die Welt von Gestern“fügt sich gut in das Gesamtwerk Zweigs, das sich ja stets Geschichtsräume eröffnete, indem es markante Gestalten wie Balzac oder Maria Stuart, Marie Antoinette oder Montaigne zu Repräsentanten einer Epoche erklärte. Stets sieht man einen empfindsamen Autor am Werk, der keine Scheu kennt, sich fremde Denk- und Lebenswirklichkeiten zu eigen zu machen. Seine Methode ist die Empathie, die aus abstrakten Figuren, wie sie in historischen Dokumenten stecken, Menschen aus Fleisch und Blut schlüpfen lässt. In seinen Erinnerungen geht er nicht anders vor, nur stehen diesmal nicht Fremde, deren Identität er sich erst erschließen muss, im Mittelpunkt, sondern er selbst. Nichts ist tot, wenn es in der Verlebendigung durch Sprache auf dauerhaftes Dasein rechnen darf.
Was Zweig anfasst, wird aufgeladen mit Leidenschaft. Was ihn kühl lässt, rührt er gar nicht erst an. Er steckt immer mit Haut und Haaren selbst in seinen Texten, worüber er schreibt, betrifft ihn unmittelbar. Und weil ihm das so wichtig ist, bedient er sich einer Sprache der Emotionen, die andere mitreißen soll. Er ist ein Aufklärer, der bezaubern, mehr noch, verzaubern will. Seine Literatur bedeutet die Rettung des Menschlichen in Zeiten, in denen Menschlichkeit nicht gefragt ist. Er steigt als Undercover-Agent in die Tiefen der menschlichen Seele ab, wo er nie nur auf tiefe Finsternis stößt, sondern immer auch ein Lichtlein der Hoffnung und Zuversicht flackern sieht. In früheren Zeiten jedenfalls. Kommt Zweig auf die Gegenwart zu sprechen, ist Verzweiflung nicht weit. „Aber das Tragischste in dieser jüdischen Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts war, dass, die sie erlitten, keinen Sinn mehr in ihr finden konnten und keine Schuld.“Das „Tragischste“– welch ein Superlativ! Das lässt ahnen, dass dem Verfasser Zuversicht abhandenkommt, nach einem Zeitalter der Ausgewogenheit das Unfassbare eingetreten ist, die ultimative Katastrophe.