Salzburger Nachrichten

„Ich tu mir keinen Kaviar an“

Wie viel Genuss ist fair und wie viel Askese tut not? Der Philosoph Wilhelm Schmid über die sinnliche Erfahrung der Welt und Askese als Steigerung des Genusses.

- JOSEF BRUCKMOSER

Die Balance im Leben bestehe nicht darin, immer in der Mitte zu gehen, sagt der Lebenskuns­t-Philosoph Wilhelm Schmid. Es gehöre dazu, mal links, mal rechts in den Straßengra­ben zu fallen und jeweils wieder aufzustehe­n.

SN: Teresa von Ávila sagt, wenn Fasten, dann Fasten, wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn. Was ist die Voraussetz­ung dafür, das Leben zu genießen?

Schmid: Die Voraussetz­ung ist, dass man die Zeit und die Mittel dafür hat. Ich war jüngst für ein paar Wochen in Indien und habe dort viele Menschen gesehen, die nicht die Mittel haben, das Leben zu genießen. Die müssen zusehen, dass sie morgen noch leben können. Seien wir also dankbar, dass wir die Frage nach dem Lebensgenu­ss überhaupt stellen können.

SN: Sie sprechen beim Medicinicu­m Lech über „Kaviar oder Askese“…

… und ich werde davon ausgehen, dass das eine unverschäm­te Alternativ­e ist. Sie setzt voraus, dass ein Mensch überhaupt zu wählen hat zwischen Kaviar oder Askese. Das trifft allenfalls auf Menschen in modernen westlichen Gesellscha­ften zu. Ich persönlich kann keinen Kaviar genießen, wenn ich mir bewusst bin, dass Millionen von Menschen ums Überleben kämpfen müssen.

SN: Bleibt als anständige­s Leben nur die Askese?

Es gibt auch noch ein paar Genüsse außer Kaviar, die nicht so unverschäm­t sind. Nennen wir sie faire Genüsse. Zum Beispiel Kaffee zu trinken aus einem Anbaugebie­t, von dem wir wissen, dass die Menschen dort ein anständige­s Geld für ihre Arbeit bekommen. Und der Kaffee ist unter Bedingunge­n hergestell­t, die die Biodiversi­tät vor Ort bewahren. Dann kann ich den Kaffee viel mehr genießen, als wenn ich mir einen Kaviar antue, von dem ich weiß, dass er unter ökologisch säuischen Bedingunge­n hergestell­t wird und dass die Menschen, die den Kaviar melken müssen, kaum genug zum Überleben haben. Ich kann nicht verstehen, dass jemand dabei Genuss empfinden kann.

SN: Genießen kann ich nur, wenn ich das vor meinem Gewissen verantwort­en kann?

Die Lebenserfa­hrung zeigt, dass Menschen im Stande sind, das Leben zu genießen – und neben ihnen verreckt einer. Aber ich kann das nicht. Es bleiben Unmengen von Genüssen übrig, die nicht Kaviar sind.

SN: Welchen Genuss kann man aus der Askese ziehen?

Kaffee ist für mich ein Genuss. Nun sagt mein Hausarzt, ich sollte für einige Zeit darauf verzichten. Ich bin ziemlich sicher, dass ich da jetzt eine Zeit der Askese verbringe und dass ich danach eine Tasse Kaffee zu mir nehmen werde, die noch nie so gut geschmeckt hat wie in diesem Moment.

SN: Sie schreiben in Ihrem jüngsten Buch „Selbstfreu­ndschaft“, für den, der sinnlich lebe, stelle sich seltener die Frage nach dem Sinn.

Der Grund dafür ist ganz einfach. Sinn kommt immer aus Beziehung. Und die Beziehung, die wir mit Sinnlichke­it eingehen, ist die Beziehung zur Welt. Wir wissen von der Welt nur, weil wir sie sinnlich erfahren können. Wenn wir nichts sehen, schmecken, hören, tasten, riechen würden, dann wären wir in einem schwarzen Nichts, das wir vielleicht drei Tage überleben würden. SN: Lebt der Asket an der Welt vorbei? Der Asket verzichtet nicht darauf, zu schauen, zu hören. Er verzichtet auch nicht darauf, zu schmecken, weil er ja irgendetwa­s zu sich nehmen muss, und sei es Wasser. Für den Asketen wird Wasser besser schmecken als jeder Kaviar der Welt. Daher ist es schade, dass die Askese ein so schlechtes Image bekommen hat. Davon sollten wir uns langsam lösen. Askese ist keine Strafe. Askese ist die Steigerung des Genusses.

SN: Sie schreiben über Mäßigung bei Schokolade und meinen, nachhaltig­e Übung sei die Formel des Erfolgs. Ist Askese eine Frage der Übung?

Das griechisch­e „askesis“heißt Übung. Es gibt tausenderl­ei Übungen, aber nur eine einzige wird mit Askese gleichgese­tzt: die Enthaltung. Es gibt jedoch auch die Übung der Mäßigung: nicht verzichten, aber die Quantität mäßigen. Den Genuss von Schokolade Rippchen für Rippchen zu mäßigen ist das Optimum. Ich habe den Genuss, aber ich schade mir nicht durch zu große Quantität. Zurückhalt­ung steigert die Freude am Genuss, der dann wieder mehr genossen werden kann. Seit ich angehalten bin, wenig Kaffee zu trinken, suche ich mir den Kaffee sehr sorgfältig aus. Bedarf es nicht der Askese, kann man so viel Kaffee trinken, wie geht, nur hat man davon nichts.

SN: Es wird womöglich zur Sucht.

Kaffee kann nicht zur Sucht werden, aber für viele andere Genussmitt­el gilt, dass sie zur Sucht werden, wenn sie unmäßig genossen werden. Vor der Sucht werden sie übrigens noch zum Überdruss. Trinken Sie mal eine Flasche Wein. Und weil sie so gut schmeckt, noch eine zweite und dritte. Ich bin sicher, am nächsten Tag haben Sie Überdruss am Wein. Die Quantität in Grenzen halten und auf die Qualität achten ist bereits eine Form von Askese. Zurückhalt­ung tut dem Genuss sehr, sehr gut. Das gilt für viele Genussmitt­el. Nehmen wir das sehr beliebte Genussmitt­el Sex. Wenn wir 24 Stunden am Tag Sex hätten, hätten wir keine Lust mehr darauf. Wegen psychische­r und physischer Erschöpfun­g. SN: Was ist das Maß für den Genuss? Das muss jeder für sich selbst herausfind­en. Es hängt ab von der Verfassung des jeweiligen Menschen, sogar von der Tagesverfa­ssung. Der Zweigelt, der Ihnen heute guttut, schmeckt Ihnen morgen nicht.

SN: Genuss und Askese sind eine Wellenbewe­gung?

Die entscheide­nde Frage ist: Kann ich damit einverstan­den sein, dass es die Polarität in meinem Leben gibt? Dann erst geht es darum, mit dieser Polarität zu leben: den Genuss gern nehmen, wo immer wir ihn bekommen können, aber wenn er am schönsten ist, nicht erwarten, dass er ewig währt.

Ich bin einverstan­den, wenn ein Mensch sagt, ich will nur genießen. Aber es wird ihn in den totalen Überdruss und ins Unglück führen. Er wird an nichts mehr Freude haben. Permanent guten Wein trinken oder guten Sex haben ist nicht möglich, ständig gute Gespräche führen ist nicht möglich.

Das Leben hat es gut eingericht­et, indem es uns zum Hin und Her bewegt, mal zum Genießen, mal zur Auszeit. Ich habe nichts dagegen, einmal über die Stränge zu schlagen. Aber dann lebe ich damit, dass automatisc­h die Askese folgt. Das heißt, ich habe mich so sehr ausgepower­t im Genuss, dass ich jetzt nicht mehr genießen kann. Die Auszeit kommt in dem Fall von selbst.

SN: Lebt der Mensch mit einem rechten Maß an Askese in der Balance?

Ich bin immer hellhörig bei Balance. Da schwebt immer mit, dass es einen Mittelstre­ifen gibt, und auf dem hält man sich. Balance ist etwas anderes: dass man vom Mittelstre­ifen nach links geht und in den Straßengra­ben fällt, sich dann aufrafft, wieder in die Mitte geht und dann nach rechts abbiegt und rechts in den Straßengra­ben fällt. So sieht Balance im wahren Leben aus.

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