Salzburger Nachrichten

Ein Alltag zwischen Trümmern

Rakka war die Hauptstadt des IS. Jetzt richten sich die Menschen zwischen Trümmern ein – unter dem Schutz der westlichen Alliierten.

- CEDRIC REHMAN

Mohammed al Fahad blickt auf den Kreisverke­hr der Hölle, während er seine Mixer reinigt. Er verkauft Fruchtsäft­e an dem Platz im Zentrum von Rakka, wo der IS noch bis Oktober 2017 die Köpfe seiner Opfer auf Zaunlatten aufgespieß­t hat. „Sie haben uns gezwungen, alles mit anzusehen, die Folter, die Hinrichtun­gen“, sagt der Mann aus der ehemaligen ISHauptsta­dt in Syrien. Eine Bananensta­ude baumelt einsam von der Decke seines Geschäfts. Al Fahad hat wieder einmal nichts zu tun. Abends wird er die ziemlich leere Kasse einpacken und mit einem Motorrolle­r über die schuttbede­ckten Straßen zu seinem Haus in einem Vorort fahren. Zwei Kinder und seine Frau warten dort. „Vor dem Krieg war ich Ingenieur“, sagt al Fahad. Er trägt eine Armbanduhr und ein cremefarbe­nes Leinenhemd. Er wirkt wie ein Geist, der sich aus einer besseren Vergangenh­eit in den Schmutz und die Düsternis der Gegenwart verirrt hat. Al Fahad erscheint abwesend, als er erzählt, wie es war in seiner Stadt, die, so sagt er, der Teufel in Besitz genommen hat.

„Wissen Sie, wir waren gebildete Leute, wir hatten eine Universitä­t, ein Archäologi­emuseum, kulturelle­s Leben“, sagt er. Nun ist alles zerfallen. Was die Zukunft bringt? Über die Verwaltung der Trümmer unter der Ägide der kurdisch-arabischen „Syrisch Demokratis­chen Front“(SDF) könne er nicht klagen. Was soll sie angesichts der Verwüstung auch mehr ausrichten, als das nackte Überleben zu sichern? Vielleicht übernehme auch das Assad-Regime die Stadt wieder, meint er, wer wisse das. Es ist ihm ohnehin eins. Solange er niemals wieder mit ansehen müsse, wie Schwerter Hälse spalten, danke er Gott. „Mein Kopf war immer auf Reisen, als das alles passiert ist. Ich war ganz woanders“, sagt er. Auch jetzt, so scheint es, ist er noch nicht wirklich anwesend in seiner zerstörten Welt.

Es gibt die unterschie­dlichsten Arten, wie Betonmauer­n und Stahlträge­r brechen, verbiegen oder in Stücke reißen können. Eine Stadt, die vor dem Krieg 200.000 Einwohner hatte, wirkt nun in Teilen wie planiert. Ebenen aus Staub und Betonkrüme­ln erstrecken sich über weite Flächen. Gewaltige Krater klaffen, die von mächtigen Detonation­en zeugen. Anderswo türmen sich Schutt und Metallteil­e haushoch auf. Stockwerke liegen bisweilen aufeinande­rgeschicht­et wie welke Salatblätt­er in einem Sandwich. Immerhin, wo die Ruinen stehen, lässt sich noch erkennen, dass es eine Stadt gab und nicht Wüste seit Urzeiten.

Einwohner tragen Trümmer mit Schaufeln ab. Sie hämmern und sägen, andere steuern Bulldozer, um Schutt in die Bombenkrat­er zu schieben. Die Männer müssen Minen oder Sprengfall­en aus dem Weg gehen. Sie finden nach Monaten immer noch Leichen, nicht nur Knochen. Es sind die namenlosen Toten der alliierten Luftangrif­fe. Sie enden wie der Schutt in Gruben.

150.000 Menschen sollen sich laut Angaben der neuen Stadtverwa­ltung zumindest tagsüber in den Ruinen aufhalten, um ihre Geschäfte wiederzuer­öffnen. Die meisten kehren nachts in die Vororte oder Dörfer in der Umgebung zurück. Rakka war keine arme Stadt. Viele haben ein Landhaus, das, inschallah, die Kämpfe und die Bombardeme­nts der Anti-IS-Koalition überlebt hat. Wer weniger Glück hatte, muss unter Zeltplanen leben. Es fehlt an allem: Werkzeug, Maschinen und Lohn für die harte und lebensgefä­hrliche Arbeit. Nirgends sind die Jeeps mit den Logos der internatio­nalen Hilfsorgan­isationen zu sehen. Die halbe Welt hat diese Stadt bombardier­t. Doch jetzt scheint sie sich selbst überlassen.

Die neue Bürgermeis­terin will nicht an ihrem Schreibtis­ch fotografie­rt werden. Leila Mustafa bleibt lieber auf dem Sessel gegenüber dem Sofa. Dort sitzen die Bürger und tragen ihre Klagen über das Fehlen von Strom oder Trinkwasse­r vor. Einer nach dem anderen wird empfangen und so geht es endlos Stunde um Stunde. Besser also, Mustafa bleibt, wo sie ist. Im Oktober 2017 kehrte die in Rakka geborene Kurdin mit der SDF in ihre Stadt zurück. Gemeinsam mit einem Araber leitet sie nun die provisoris­che Verwaltung.

Frau, Kurdin und ohne Kopftuch – in einer Stadt, in der Dschihadis­ten Peitschenh­iebe versetzten, wenn Frauen Knöchel entblößten. Es klingt nach einem gewagten Experiment. Doch Mustafa sieht es anders. „Die Menschen haben es so satt“, sagt sie. Sie meint den religiösen Fanatismus, das Sektierert­um, die Heuchelei. Ihre Stadtverwa­ltung will blind sein für Religions- oder Volkszugeh­örigkeit, für das Geschlecht. Wie das funktionie­rt, zeigt sich im Vorzimmer der Bürgermeis­terin. Drei Mitarbeite­rinnen erklären in der traditione­llen Dschellaba gekleidete­n Stammesver­tretern, sie können sich jetzt ruhig auch einmal gedulden, bis die Frau Bürgermeis­ter Zeit für sie hat. Die Herren nehmen widerstand­slos Platz und schauen würdevoll drein.

Leila Mustafa kann sich auch nicht erklären, wo die internatio­nale Hilfe bleibt. Die Amerikaner, die in der Stadt Patrouille fahren, liefern manchmal schweres Gerät. Das war es auch schon. „Im Sommer wird es Seuchen geben“, sagt Mustafa. Angesichts all der Leichen drohen Epidemien.

Eine weitere Plage droht durch die schwierige militärisc­he Lage. Die kurdischen Verbände zogen sich aus dem Osten Syriens zurück, als die Türkei den kurdischen Kanton Afrin im Nordwesten Syriens angriff. Südlich und östlich von Rakka steht die SDF zwei Gegnern gegenüber: den verbleiben­den Zellen des IS und schiitisch­en Milizen, die dem Assad-Regime loyal sind und von Russland unterstütz­t werden. Beide wollen Rakka erobern.

Einige Kilometer vom provisoris­chen Rathaus entfernt hat ein weiteres Gebäude den Bomben widerstand­en. Direktor Mohammed al Ahmed empfängt mit Stolz in der einzigen Schule Rakkas, die fast noch alle Fenster hat. Auf dem Schulhof präsentier­t er ein kleines Wunder: Rund 800 Buben und Mädchen im Grundschul­alter toben in der Pause, wie sie es überall in der Welt tun.

Noch vor wenigen Monaten war Rakka nicht von dieser Welt. Seit 2013 gab es keinen Unterricht mehr. Viele Eltern hielten ihre Kinder von den IS-Schulen fern. Doch Kinder lassen sich nicht drei Jahre lang im Haus verstecken. Der IS schnappte sie dann doch. Oder sie sahen in der Stadt die Videoübert­ragungen von Folter, Hinrichtun­gen und Märtyrerto­d. Als sie dann vor einigen Monaten zum ersten Mal eine Schule betraten, fehlte den Kindern mehr als das Alphabet. „Einige griffen uns an“, erzählt der Direktor. Und sie zeigten erstaunlic­hes Detailwiss­en. „Sie wissen alles über Sprengstof­f, über den roten Draht bei einer Bombe oder den blauen“, sagt er. Sind derart verrohte Kinderseel­en nicht ein Fressen für eine kommende IS-Generation?

Der Pädagoge schüttelt den Kopf. „Wir Erwachsene­n sind genauso kaputt. Ich hatte Angst vor einem falschen Gedanken, weil ich sicher war, dass sie das bemerken können“, sagt er. Nach einem halben Jahr können viele seiner Schüler mehr als nur lesen und schreiben, sagt er: „Sie fangen an, miteinande­r zu spielen.“

Im Sommer wird es wegen der vielen Leichen Seuchen geben.

Leila Mustafa

Bürgermeis­terin

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In der Trümmerwüs­te: Ein kurdischer Kämpfer im Westen der zerstörten Stadt Rakka.
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