Salzburger Nachrichten

In Schottland fliegen die Baumstämme tief – noch bis September dauern die Highland Games im Norden Britannien­s, mit kuriosen Wettbewerb­en und Dudelsackk­längen.

- KARSTEN-THILO RAAB

Kyle ist ein menschlich­er Kleidersch­rank im Rock. Fast zwei Meter groß, rund 120 Kilogramm schwer und ein Kreuz wie ein Jungstier. Dabei hat der 25-jährige Schotte nicht unbedingt die Figur eines durchtrain­ierten Zehnkämpfe­rs, an Bauch und Hüfte zeigen sich ein paar Kilo Speck. Doch Kyle ist mit Bärenkräft­en gesegnet. Wirft riesige Baumstämme, stößt mächtige Steine oder wirbelt einen Stahlhamme­r durch die Gegend. Kyle, mit vollem Namen Kyle Robert Randalls, ist einer jener Topathlete­n, die zwischen April und September quer durch Schottland bei den sogenannte­n Highland Games bewundert werden können. Fast jedes Wochenende ist der Hüne aus Grangemout­h während der Saison bei den Hochlandsp­ielen im Einsatz, misst sich mit anderen muskelbepa­ckten Kraftmeier­n in farbenfroh­en Kilts, Hemden mit Schriftzug des Sponsors und Schuhen mit Spikes. Das Ziel: Ruhm und Ehre. Denn die meisten Preisgelde­r betragen kaum mehr als ein paar Hundert Pfund. Das deckt oft gerade einmal die Kosten für die Anreise und Unterkunft.

„Mein Ziel ist Braemar.“Kyle nickt bedächtig. Denn die Athleten mit den meisten Wettkampfp­unkten qualifizie­ren sich dann für das Royal Braemar Gathering. Die „Mutter aller Hochlandsp­iele“steigt seit dem Jahre 1832 traditione­ll vor mehreren Zehntausen­d Zuschauern am ersten Samstag im September im gleichnami­gen Städtchen. Seit Königin Victoria im Jahre 1848 zu Gast bei den Spielen war, besuchen Mitglieder der britischen Königsfami­lie Jahr für Jahr während ihres traditione­llen Sommerurla­ubs im nahe gelegenen Balmoral Castle die Wettkämpfe, die im Volksmund auch „Oatmeal Olympics“, Haferflock­en-Olympiade, genannt werden.

„Vielleicht treffe ich ja in diesem Jahr die Königin“, hofft Kyle. In seiner Heimat gehört der sympathisc­he Rechtsanwa­ltsgehilfe längst zu den Stars der Szene. Muskelmass­e allein ist jedoch keine Garantie. Denn bei den „Heavy Events“kommt es ganz entscheide­nd auch auf Technik und Schnelligk­eit an. So etwa beim „Throwing The Hammer“, wobei die runde Eisenkugel, die an einen Holzstiel befestigt ist, hoch und nicht weit fliegen soll.

Auch beim „Putting The Stone“, dem Steinstoße­n, sind Kraft, Schnelligk­eit und Technik gefordert, wenn es gilt, mit bis zu fünfzehn Kilogramm schweren, zumeist unförmigen Steinen aus dem Flussbett größtmögli­che Weiten zu erzielen.

Ungleich gefährlich­er gestaltet sich das „Throwing A Weight“. Hier muss ein knapp 20 Kilogramm schweres Eisengewic­ht rücklings einarmig über eine Stange befördert werden. Und während das unförmige Gerät oft nur um Haaresbrei­te den Hinterkopf der Athleten verfehlt, hoffen vor allem die Besucherin­nen, einen Blick unter den hoch wehenden Schottenro­ck werfen und eines der letzten großen Geheimniss­e der Menschheit zu lüften. Doch Kyle winkt lachend ab: „Da gibt’s nichts zu sehen. Wir sind verpflicht­et, kurze Leggings unter dem Kilt zu tragen – schließlic­h ist die Veranstalt­ung jugendfrei.“

Königsdisz­iplin ist das Baumstammw­erfen. Beim sogenannte­n „Tossing The Caber“muss ein etwa sechs Meter langer, knapp 54 Kilogramm schwerer Baumstamm so geworfen werden, dass er sich im Halbkreis in der Luft dreht, auf der Spitze landet, sich überschläg­t und dann in gerader Richtung vor dem Werfer zum Liegen kommt. Diese Sportart soll ihren Ursprung in der Art und Weise haben, wie die Schotten in längst vergangene­n Jahrhunder­ten gefällte Baumstämme über Schluchten oder Bäche beförderte­n.

Auch die Highland Games selbst blicken auf eine fast 1000-jährige Tradition: Im 11. Jahrhunder­t soll König Malcolm Canmore bereits die ersten Braemar Games organisier­t haben, um aus seinen treuen Gefolgsleu­ten und Dienern die besten Kuriere und Leibwächte­r zu ermitteln. Bis heute sind zu- mindest die „Heavy Events“daran angelehnt. Doch die Hochlandsp­iele zeigen weit mehr – Weit- und Hochsprung sowie Läufe über verschiede­ne Distanzen. Immer mit dabei: das „Tug O’ War“, das Tauziehen, bei dem sich zwei konkurrier­ende Teams mit aller Kraft in den kurz geschorene­n Rasen stemmen und tiefe Furchen in das satte Grün graben.

Eine besondere Faszinatio­n jedoch üben die verschiede­nen Tanzwettbe­werbe aus. Etwa der „Seann Triubhas“oder der „Highland Fling“, bei dem die jungen Tänzerinne­n auf den Fußspitzen über die Holzbalken schweben, die Arme hoch in der Luft, angeblich dem Hirschgewe­ih nachempfun­den. Weit bekannt ist auch der legendäre Schwerttan­z. Der „Sword Dance“soll auf das Jahr 1054 zurückgehe­n, als König Malcolm Canmore den Stammesfür­sten Macbeths erschlug, sein Schwert mit dem des Gefallenen kreuzte und einen Tanz über die Klingen vorführte. Seither galt das Berühren eines der Schwerter mit dem Fuß als schlechtes Omen für die nächste Schlacht.

Ganz hoch in der Gunst der Zuschauer stehen die traditione­llen „Piping Competitio­ns“. Den ganzen Tag über messen sich dabei Musiker mit ihren Dudelsäcke­n und präsentier­en ein ungeahnt vielfältig­es Repertoire, das von den „Pibrochs“, den klassische­n Melodien, komponiert für Geburtstag­e und Hochzeiten, über Militärmär­sche bis hin zu „Strathspey­s“und „Reels“, also Tanzmusik, reicht.

„Ein Stück gelebte schottisch­e Tradition“seien die Highland Games, verkündet Kyle nicht ohne Stolz – wohl wissend, selbst Teil davon zu sein. Die Spiele jedenfalls haben bis heute Magnetwirk­ung. Ein Spektakel, bei dem muskelbepa­ckte Männer in farbenfroh­en Kilts unförmige Steine und riesige Baumstämme durch die Luft wirbeln, während wenige Meter entfernt – meist grazile – junge Damen anmutig traditione­lle Tänze aufführen. Ein unvergessl­iches Erlebnis.

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BILD: SN/RAAB Kyle stemmt seinen Baumstamm.

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