Bei früheren Wahlen profitierte der türkische Staatschef Erdoğan von der Schwäche der Opposition. Das ist vorbei.
Bei früheren Wahlen profitierte der türkische Staatschef Erdoğan von der Schwäche der Opposition. Jetzt hat er fünf Gegenkandidaten – und manch einer kann ihm gefährlich werden.
Regulär hätten die Parlamentsund Präsidentenwahlen erst Ende 2019 stattfinden sollen. Als Erdoğan sie im April überraschend um 17 Monate vorzog, reagierte er damit nicht nur auf die heraufziehende Finanzkrise. Er hoffte auch, die Opposition zu überrumpeln. Anfangs schien ihm das zu gelingen. Letztlich haben die Oppositionsparteien aber Tritt gefasst.
Bei der Parlamentswahl treten nun vier Parteien gemeinsam an: Die CHP ging mit der IYI-Partei, der Glückseligkeitspartei (SP) und der Demokratischen Partei (DP) eine Wahl-Allianz ein, das „Bündnis der Nation“. Es garantiert der SP und der DP, die auf sich allein gestellt an der Zehnprozenthürde scheitern würden, den Einzug ins Parlament.
Anfängliche Überlegungen mehrerer Parteien, auch einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten gegen Erdoğan aufzustellen, scheiterten aber schnell. Jetzt treten insgesamt sechs Kandidaten im Rennen um das Amt des Staatschefs an:
1.
Recep Tayyip Erdoğan Erdoğan regiert die Türkei seit mehr als 15 Jahren – und damit länger als irgendjemand sonst seit Einführung des Mehrparteiensystems. 1954 als Sohn einer Seemannsfamilie geboren, wuchs Erdoğan im schäbigen Istanbuler Hafenviertel Kasimpaşa auf. Sein Taschengeld verdiente er mit dem Straßenverkauf von Limonade und Sesamkringeln. Eine Karriere als Fußballer musste Erdoğan auf Geheiß des strengen Vaters ausschlagen. Statt auf den Rasen schickte der ihn auf eine islamische Predigerschule. Später arbeitete Erdoğan in der Istanbuler Stadtverwaltung und schloss sich der islamistischen Wohlfahrtspartei an, für die er 1994 zum Bürgermeister Istanbuls gewählt wurde. 2001 gründete Erdoğan mit Gesinnungsgenossen die AKP und gewann im Jahr darauf die Parlamentswahl. Nach elf Jahren als Premier wählten ihn die Türken 2014 zum Staatspräsidenten.
2.
Muharrem Ince Der Kandidat der größten Oppositionspartei CHP gilt als witzig, unermüdlich und volksnah. Inhaltlich ist der 54-Jährige der Gegenentwurf zu Erdoğan. Er wirbt damit, „Präsident aller Türken“sein zu wollen, und trägt bei Wahlkampfveranstaltungen daher nicht das Abzeichen seiner Partei. Den inhaftierten Kandidaten der kurdischen Oppositionspartei, Selahattin Demirtaş, hat er im Gefängnis besucht.
Ince will sich für eine unabhängige Justiz und freie Medien einsetzen, außerdem strebt er eine „schnelle“Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union an.
Aufgewachsen ist Ince im westtürkischen Yalova in einfachen Verhältnissen. Er studierte, wurde Physiklehrer und später Schuldirektor. Ince sagt von sich selbst, er sei gläubiger Muslim, auch wenn er nicht fünf Mal am Tag bete. Seit er 15 Jahre alt sei, gehe er jeden Freitag in die Moschee. Mutter und Schwester tragen Kopftuch. Ince ist ein säkularer Politiker, das Kopftuchverbot würde er nicht wieder einführen.
3.
Meral Akşener Die 62-Jährige tritt für ihre neu gegründete nationalkonservative „Gute Partei“(IYI Parti) an. Akşener verfügt über langjährige politische Erfahrung. Sie war 1996/97 für rund acht Monate Innenministerin in einer Koalition der islamistischen Wohlfahrtspartei mit ihrer damaligen Partei DYP. Viele Kurden machen sie als ehemalige Innenministerin mitverantwortlich für das harte Vorgehen von Sicherheitskräften im Südosten der Türkei.
Später saß Akşener für die ultranationalistische MHP im Parlament. Nachdem sie sich mit Parteichef Devlet Bahçeli überworfen hatte, gründete sie 2017 ihre eigene Partei. Akşener spricht vor allem nationalistische, religiöse und säkulare Wähler an – damit könnte sie Stimmen von enttäuschten Erdoğan-Wählern bekommen.
Akşener hat Geschichte studiert und promoviert. Sie wurde im westtürkischen Izmit geboren, ist verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn. Sollte sie Präsidentin und nach dem neuen System auch Regierungschefin werden, würde sie in die Fußstapfen ihrer einstigen DYP-Parteikollegin Tansu Çiller treten. Çiller war 1993 bis 1996 Ministerpräsidentin und die erste und bislang einzige Frau in dem Amt.
4.
Selahattin Demirtaş Seit eineinhalb Jahren sitzt er in Untersuchungshaft und ist doch so präsent wie selten zuvor: Der Kandidat der prokurdischen Oppositionspartei HDP liegt in Umfragen zwar abgeschlagen auf dem dritten oder vierten Platz, seine Kandidatur könnte aber für eine Stimmenverteilung sorgen, die Erdoğan in die Stichwahl mit einem der anderen Oppositionskandidaten zwingt.
Demirtaş stammt aus Palu in der Osttürkei und war bis Februar Chef der HDP. Unter ihm und seiner damaligen Partnerin an der Parteispitze, Figen Yüksekdağ, schaffte die Partei 2015 erstmals den Einzug ins Parlament – Erdoğans AKP kostete das seinerzeit die absolute Mehr- heit. Seit November 2016 sitzt der 45-jährige Politiker wegen des Vorwurfs der PKK-Mitgliedschaft in Untersuchungshaft im westtürkischen Edirne – weit weg von seiner Frau und den beiden Töchtern, die im südosttürkischen Diyarbakir leben.
5.
Temel Karamollaoğlu Der Kandidat der islamistischen „Saadet Partisi“, der „Glückseligkeitspartei“, setzt auf enttäuschte Erdoğan-Wähler. Der 76Jährige gibt sich als erfahrener Staatsmann. Er kommt bei Kundgebungen immer wieder auf Korruption und Vetternwirtschaft unter Erdoğan zu sprechen. Umfragen sehen ihn aber nur bei zwei Prozent.
6.
Doğu Perinçek Der Linksnationalist Doğu Perinçek kommt den Umfragen zufolge auf weniger als ein Prozent. Aber unterschätzen darf Präsident Erdoğan keinen seiner Gegner. Er hat keine Stimme zu verschenken. In den meisten Umfragen liegt er unter 50 Prozent.