Netanjahu wegen Deal mit Polen in der Kritik
Polens Holocaust-Gesetz löste weltweit Empörung aus. Israels Premier Netanjahu hat Änderungen erwirkt. Doch die reichen vielen Israelis nicht.
Als Sohn eines Historikers ist für Israels Premierminister Benjamin Netanjahu Geschichte Chefsache – vor allem, wenn es um den Holocaust und die Lehren daraus geht. Auch deshalb schritt er sofort ein, als Polen im Jänner ein Gesetz zur Schoah verabschiedete.
Dieses Gesetz macht es strafbar, dem Volk Polens oder seiner Regierung Mitschuld am Holocaust zu geben. Das löste weltweit Empörung aus, die Beziehungen zwischen Jerusalem und Warschau gerieten in eine Krise. Nun erklärte Netanjahu in einer gemeinsamen Verlautbarung mit der polnischen Regierung den Streit für beigelegt. Man habe Polen gezwungen, das Gesetz angemessen zu ändern. Alle anstößigen Paragrafen seien „vollkommen annulliert worden“, verkündete der Premier feierlich.
Doch Netanjahu hat sich zu früh gefreut. Tatsächlich eskaliert der Streit mit Israels Premier im Mittelpunkt. Am Donnerstag bezog das renommierte Holocaust-Forschungsinstitut Yad Vashem zu Netanjahus Verlautbarung Stellung. Es erklärte in einer ungewöhnlich scharfen Presseerklärung, die Vereinbarung enthalte „schwere Fehler und Täuschungen“. Am besorgniserregenden Charakter des polnischen Gesetzes habe sich nichts geändert. Die „Gefahr, dass Forschern und dem Andenken des Holocausts echte Schäden entstehen“, bestehe fort, so die Historiker.
Netanjahus Koalitionspartner gesellten sich zu den Kritikern. Bildungsminister Naftali Bennett, Vorsitzender der Partei „Jüdisches Heim“, bezeichnete die Verlautbarung als „Schande voller Lügen“und forderte den Premier auf, sie zurückzuziehen. Gil Yaron berichtet für die SN aus Israel
Rund 3,5 Millionen Menschen jüdischen Glaubens lebten bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 in Polen. Rund 90 Prozent von ihnen wurden ermordet, die Mehrheit in Vernichtungslagern auf polnischem Boden. Auch Forscher sagen, es sei falsch, von „polnischen Todeslagern“zu sprechen, wurden diese doch von den Deutschen errichtet und betrieben. Doch die Rolle, die Polens Bevölkerung und die damalige Regierung bei der Judenverfolgung spielten, sorgt für Streit.
Polens Regierung wollte diesen Zwist mit dem Gesetz beenden und zugleich in aller Welt „den guten Namen Polens wahren“. Doch Warschaus außenpolitische Interessen und sein Image nahmen großen Schaden. Das mit Netanjahu verfasste Kommuniqué hilft nun, Polens Status wieder aufzubessern. Wohl deshalb sponserte eine Stiftung, die zur regierungsnahen Bank Polski gehört, ganzseitige Anzeigen mit dem Text der Verlautbarung in den wichtigsten Tageszeitungen der USA und europäischer Schlüsselstaaten, darunter Deutschland, Großbritannien und Spanien. Auch in israelischen Tageszeitungen schaltete sie ganzseitige Anzeigen mit dem Text.
Dieser „weist Versuche zurück, die polnische Nation insgesamt“für die Grausamkeiten der Nazis und ihrer Kollaborateure verantwortlich zu machen, und bedauert, dass „einige Menschen“sich damals „von der schlechtesten Seite“zeigten, „unabhängig von Herkunft, Religion oder Weltanschauung.“Die polnische Exilregierung der Kriegszeit habe sich indes bemüht, den Genozid der Nazis zu stoppen, indem sie die Aufmerksamkeit der Alliierten auf den Mord an den Juden richtete. Der Text verurteilt „Fälle von Grausamkeit gegen Juden, die von Polen begangen wurden“, betont aber „das heldenhafte Verhalten vieler Polen“, die Juden gerettet haben.
All das komme einer gefährlichen Geschichtsklitterung gleich, sagt Yad Vashem. Es widerspreche „akzeptiertem historischen Wissen“. Die polnische Exilregierung und der polnische Untergrund hätten sich „zu keinem Zeitpunkt während des Kriegs für Polens jüdische Bürger eingesetzt“. Der Widerstand habe es nicht nur unterlassen, Juden zu retten, sondern „beteiligte sich nicht selten aktiv an deren Verfolgung“. Polen hätten Juden „nur sehr selten während der Schoah geholfen, während Übergriffe und sogar Mord weit verbreitete Phänomene waren“. Polen, die jüdischen Mitbürgern geholfen hätten, hätten sich vor ihren Nachbarn „nicht minder gefürchtet als vor den Nazis“.
Netanjahu zahlt nun den Preis für die Einigung mit Polen. Prominente Holocaust-Überlebende bezichtigten ihn des Verrats an der Geschichte seines Volkes. Kommentatoren in Israel meinen, realpolitische Interessen hätten Netanjahu dazu bewegt. Polen ist für Jerusalem ein wichtiger Draht zur EU. Warschau kann helfen, israelfeindliche Resolutionen zu vereiteln. Andere mutmaßen, Polen werde jetzt wie die USA seine Botschaft nach Jerusalem verlegen. Das wäre für den Premier ein politischer Erfolg, der den Zorn vieler Anhänger schnell wieder vergessen machen könnte.