Der Neid, Motor der Gesellschaft
Und immer blöken die Neidhammel. „Geber“gegen „Nehmer“, Inländer gegen Flüchtlinge, Junge gegen Alte: Der Neid setzt unserer Gesellschaft schwer zu. Über die wohl einzige Todsünde, die keine Freude macht.
Monatlich 863 Euro für einen Menschen fürs „Nichtstun“? Eindeutig zu viel Mindestsicherung, findet der Leser, Beruf Steuerberater. „Das ist doch unfair im Vergleich zu jenen arbeitenden Leuten, die nicht viel verdienen“, schreibt er also vor Kurzem in einem Leserbrief zu einem Kommentar über die geplante Kürzung der Mindestsicherung, die vor allem Asylberechtigte und kinderreiche Familien treffen soll.
863 Euro pro Person, zu viel für unseren Sozialstaat – eine Meinung, die viele in Österreich teilen. Gerade das Sparen bei Flüchtlingen, die bleiben dürfen, war im vergangenen Wahlkampf ein großes Thema, das viele Wählerinnen und Wähler der heutigen Regierungsparteien angesprochen hat. Egal ob IT-Unternehmer oder leitende Angestellte, beim Thema Mindestsicherung kommt der Leistungsträger, die Leistungsträgerin in uns heraus, Motto: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“– wobei sich diese gerne zitierte Bibel-Passage im Zweiten Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki nicht gegen arbeitslose Menschen richtet: Paulus spricht von jenen, die andere für sich arbeiten lassen.
Das größere Auto, das tollere Haus, die begabteren Kinder des anderen – Neid gehört zum Alltag. „Die mildeste Form des Neids ist Teil unseres Lebens. Niemand will neidisch sein, aber alle sind es“, sagt Psychotherapeut und Psychologe Ulf Lukan.
Doch der vergleichende Blick nach unten, der Neid auf jene, die ohnehin wenig haben, die Missgunst der plakativen Boulevardzeitungskampagnen gegen die „Sozialschmarotzer“, all das hat eine neue, andere Qualität. „Geber“gegen „Nehmer“von Sozialleistungen, Inländer gegen Flüchtlinge, Junge gegen Alte. Immer öfter scheinen verschiedene gesellschaftliche Gruppen das Gefühl zu haben, zu kurz zu kommen – ob berechtigt oder nicht.
Vor allem die aktuelle Debatte um Einsparungen im untersten sozialen Netz zeigt, wie der Neid die Gesellschaft unterwandert. Der vergleichende Blick der Menschen richtet sich auf Sozialleistungen, vermeintliche und reale Privilegien. Die Ressourcen des gut ausgestatteten Sozialstaats müssen bewusst eingesetzt werden, die Verteilungskämpfe werden härter. Die Politik hat dieses Unbehagen in der Bevölkerung erkannt und versucht, es für die eigenen Vorhaben zu instrumentalisieren – sie schürt damit auch den Neid.
Neiddebatten haben in Österreich eine gewisse Tradition. Seien es Diskussionen um Politiker-Privilegien oder mehr Transparenz bei Managergehältern (die dann ohnehin nie umgesetzt wurde). Gerade die ältere Generation muss sich nicht nur sachlich berechtigte Kritik am Pensionssystem, sondern auch immer wieder untergriffige Polemiken anhören. Die „Graue Gefahr“schrieb etwa „Profil“einmal sogar aufs Cover und weiter: „Alt, aber gierig: Eine maßlose Kaste von Frühpensionisten und Langzeitrentnern bricht am Höhepunkt der Wirtschaftskrise den Generationenvertrag und stiehlt der Jugend die Zukunft“. Die Alten gierig – die Jüngeren neidisch.
„Die größte Genossenschaft in Österreich ist nicht der Raiffeisenverband, sondern die Neidgenossenschaft“, sagt Christian Konrad. Der langjährige Raiffeisen-Generalanwalt und ehemalige Flüchtlingskoordinator der Republik sieht die Missgunst in der Mitte der Gesellschaft allerdings differenziert. „Während der Zeit der Fluchtbewegung ist mir bewusst geworden, dass viele auch – teilweise irrationale – Ängste um ihren Arbeitsplatz, ihre Pension, die eigenen Sozialleistungen haben. Diese Sorgen sollte man nicht auch noch schüren.“Derzeit gibt Österreich schon eine Milliarde Euro jährlich für die Mindestsicherung aus, das ist etwa ein Prozent der Sozialausgaben. In Wien sind die Hälfte der Bezieher Asylberechtigte, die wahrscheinlich zu einem Teil länger in der Mindestsicherung bleiben werden. Doch darüber, was die Folgen von Kürzungen im untersten Netz bedeuten würden –
Niemand will neidisch sein, aber alle sind es. Ulf Lukan Psychologe
Radikalisierung, mehr Kriminalität, mehr Kranke – hört man derzeit wenig von der Regierung.
Invida, der Neid, gehört nach dem Katechismus der katholischen Kirche zu den sieben Todsünden und hat den schlechtesten Ruf unter seinen Mitsünden. Neid gilt als moralisch verwerflich und sozial unerwünscht. Hochmut, Wollust, Habgier, Zorn, Trägheit oder Völlerei – die anderen Sünden entspringen einem Lustprinzip, sind also auch positiv besetzt. „Unter den sieben Todsünden ist der Neid die einzige, die überhaupt keinen Spaß macht“, schreibt der amerikanische Autor Joseph Epstein im Buch „Neid – die böseste Todsünde“.
Der Mönch und Asket Evagrius Ponticus kategorisierte die menschlichen Laster erstmals Ende des vierten Jahrhunderts und benannte acht negative Eigenschaften, von denen die Mönche heimgesucht werden könnten. Im siebten Jahrhundert brachte Papst Gregor I. den Sündenkatalog in seine heute gültige Form – als Erziehungsmaßnahme für die Gläubigen. Theologie, Kunst und Literatur beschäftigen sich seit Jahrhunderten mit der Missgunst, dem vergleichenden oder bösen Blick. Eine Fehlhaltung, an der sich seit ihrer erschreckenden Darstellung in Dante Alighieris „Göttlicher Komödie“naturgemäß nichts geändert hat.
Laut Anthropologen prägt Neid das Zusammenleben bestimmter Affenarten seit sieben Millionen Jahren und hat damit auch die menschliche Entwicklung beeinflusst. Neid ist Teil unseres Emotionssystems, es gibt keine Kultur ohne Neid. Das sei insofern auffällig, weil der Neid eben grundsätzlich nicht gewinnbringend erscheine, wie zum Beispiel der Ekel, der etwa auch dazu diene, sich nicht zu vergiften, meint Psychologe Lukan. „Es geht bei diesem emotionalen Problem nicht primär um den Gegenstand des Neids, zum Beispiel das teure Auto des Nachbarn, sondern mehr um die eigene Vermutung, der andere habe durch das Auto ein Gefühl von Zufriedenheit, das mir fehlt.“
Menschen, die besonders mit Neidgefühlen rängen, litten oft an den Mangel-Erfahrungen ihrer Kindheit. „Wenn ich als Kind das Gefühl habe, nicht zu genügen, ungerecht behandelt zu werden, kann ein Selbstwertproblem entstehen. Und diese Lücken im Selbst, das Nichtgelingen von Zufriedenheit, provozieren Neid“, erklärt Lukan. Psychologisch gesehen gilt Neid allerdings nicht nur als problematische Emotion. Der vergleichende Blick kann Menschen auch
anspornen, mehr zu erreichen, ein „konstruktiver Stachel“in der Wettbewerbsgesellschaft sein: Wenn die Kollegin eine Zusatzausbildung macht, um aufzusteigen, dann schaffe ich das auch. Und eine wichtige Funktion von Neid sei das Aufzeigen von Ungerechtigkeit, sagt Lukan. „Manchmal wird berechtigte Kritik auch mit ,Neid‘ desavouiert, wenn etwa zwei die gleiche Arbeit machen, aber einer mehr dafür bekommt.“Für die Philosophin und Sozialpolitikexpertin Michaela Moser ist Neid auch ein Indikator, dass etwas nicht stimmt: „Man muss prüfen, ob hinter der Missgunst ein Bedürfnis des Menschen steht.“Nicht jede Diskussion um Verteilungsgerechtigkeit ist gleich eine Neiddebatte.
Der vergleichende Blick richtet sich laut den Erkenntnissen der Psychologie im Regelfall auf das eigene Umfeld – das Luxusleben von Hollywoodstars oder „Forbes“Milliardären eignet sich dafür weniger. Doch woher kommt der Neid auf Bezieher der Mindestsicherung, vor allem auf Asylberechtigte, die man für ihre schwierige Lebenssituation wohl kaum beneiden muss? Der Psychotherapeut Lukan vermutet eine Ursache dafür in der Sozialisationsphase des Menschen: „Wir lernen, dass wir etwas tun müssen, damit wir etwas bekommen. Etwas zu bekommen, ohne etwas dafür zu tun, wünschen sich viele innerlich, das ist eine Paradies-Fantasie. Wenn jemand anderer diesen unterdrückten Wunsch lebt, halten manche das nicht aus.“Sozialexpertin Moser, die sich auch in der Armutskonferenz engagiert, erzählt von den Vergleichen, die Menschen mit wenig Einkommen ziehen: „Wir müssen mit unseren Klienten gegen diese Neiddebatten arbeiten. Die Sozialarbeiterinnen tun sich derzeit schwer, wenn die Leute dauernd in Zeitungen lesen: ,Alles für die Flüchtlinge‘. Und dann fragen: ,Was ist mit uns?‘“
Das Auseinanderdividieren der Gesellschaft, ein gefährliches Spiel. Der Neid treibt die Entsolidarisierung weiter voran. Was kann man dagegen tun? „Wer viel hat, sollte damit weder protzen noch verschämt herumdrucksen, sondern sich auch für die Gemeinschaft einsetzen“, sagt der ehemalige Raiffeisen-Generalanwalt Christian Konrad. Er hat kürzlich mit Mitstreitern „Menschen.Würde.Österreich“gegründet, eine Allianz für Integration. Ein Versuch der Zivilgesellschaft, mehr zusammenzuarbeiten: „Ich sehe noch keinen neuen Klassenkampf im Land“, sagt Konrad, „aber Ansätze von Rassismus und Missgunst, denen wir gemeinsam entgegentreten sollten.“
Jeder einzelne Mensch kann nur versuchen, konstruktiver mit dem Neid umgehen. „Den Kindern einen gesunden Selbstwert mitzugeben hilft ihnen, Neidgefühle besser im Griff zu haben“, erklärt Psychologe Lukan. „Grundsätzlich helfen uns Selbstreflexion und die Auseinandersetzung mit der eigenen Unvollkommenheit – es wird uns immer etwas fehlen.“
Und dieses Gefühl wird wohl auch nicht verschwinden, wenn eine Flüchtlingsfamilie weniger Geld bekommt.
Die größte Genossenschaft in Österreich ist die Neidgenossenschaft. Christian Konrad ehemals Raiffeisen-General