Sucht und Ekstase
Der Genießer kultiviert, zelebriert und ritualisiert seinen Genuss. Die Sucht ist das genaue Gegenteil davon. Wo verläuft die Grenze zwischen Freiheit und Abhängigkeit?
Lust, Frust oder Suche? Mit dem Wesen der Sucht setzt sich der Vorarlberger Psychiater Reinhard Haller beim Medicinicum Lech auseinander. Im SN-Gespräch zeigt der renommierte Suchtexperte das Paradoxon der Sucht auf – und wie Ekstase anders erreicht werden kann. SN: Was ist Sucht eigentlich?
Haller: Sucht ist ein Prozess des Freiheitsverlustes. Sie beginnt immer mit maximaler Freiheit. Man ist in einem berauschten Zustand, man sprengt Konventionen, ist entrückt und hat ein hohes Maß an Freiheit. Aber wenn man diesen Rauschzustand nicht kultiviert und kontrolliert, wird er inflationär, er verliert seine Wirkung und der Mensch damit seine Freiheit. Es ist das Paradoxon der Sucht, dass sie mit maximaler Freiheit beginnt und mit maximaler Unfreiheit endet. Die Wirkung der Substanzmittel wird dominant, bis man nicht mehr Herr oder Frau im eigenen Haus ist. SN: Das scheint schleichend zu gehen. Gibt es Punkte, Signale, wo der Einzelne noch hellhörig sein könnte? Wir suchen immer nach „der“Ursache der Sucht. Es sind aber immer mehrere. Sucht hat zum Teil mit Veranlagung zu tun, mit den Genen, sie hat zu tun mit der Erziehung und dem Umgang, und Sucht hat viel zu tun mit dem Versuch, mich selbst zu heilen. Es ist ein falscher Selbstheilungsprozess. Man will sich heilen von Depressionen, Minderwertigkeitsgefühlen, Leere, Einsamkeit.
Am Anfang ist die Sucht auch eine Hilfe: Ein gestresster Mensch ist entspannt, ein gehemmter Mensch sagt plötzlich, was er denkt, ein trauriger wird fröhlich. Aber wenn dieses Verhalten seine Singularität verliert, wenn es reflexhaft und häufig wird, dann führt es in die Abhängigkeit. Der Betroffene erkennt das lange Zeit nicht, weil bei der Sucht mehr als bei anderen Krankheiten die Verdrängung groß ist. Man sagt, ich trinke ohnehin nicht viel, ich könnte jederzeit aufhören, wenn ich wollte, ich zittere nicht vom Entzug, sondern weil ich immer schon nervös war. Und so weiter ...
SN: Wie kann eine Therapie diesen Teufelskreis durchbrechen? Die Herausforderung ist, dass der Betroffene erkennt, dass er krank und ein Stück weit hilfsbedürftig ist und dass er seinem Problem nüchtern in die Augen schaut.
SN: Die Krankheitseinsicht ist der erste entscheidende Wendepunkt? So ist es. Aber die Patienten, die in die Therapie kommen, sind zu 90 Prozent nicht krankheitseinsichtig. Sie sagen, ich brauche das eigentlich nicht, aber ich mache es, damit meine Frau eine Ruh gibt, damit mir der Amtsarzt den Führerschein gibt, damit der Chef sein Ultimatum aufhebt. Das ist in der Suchttherapie die große Herausforderung, aus dieser Fremdmotivation eine eigene Betroffenheit zu erzeugen. Das Suchtproblem kann letztlich nur die betroffene Person selbst lösen.
SN: Was kann den Umschwung zur Selbstbetroffenheit herbeiführen? Das Wichtigste ist, dass der Patient aus dem Wechsel von Berauschung und Entzug herauskommt, weil er sonst nicht klar denken kann. Dazu kommen ein paar Faktoren, die den Menschen zu denken geben. Einer ist der medizinische Nachweis einer Organschädigung wie Leberzirrhose. Bei jungen Menschen ist es der Führerschein. Den Führerschein zu verlieren verkraften sie nicht. Da stellen sie sich dann doch lieber ihrem Suchtproblem. Andere motivierende Faktoren sind die Familie und der Arbeitsplatz. Bei Drogenprozessen greift das Angebot Therapie statt Strafe. Da geht jemand dann doch lieber in die Klinik als ins Gefängnis. Das alles sind anfangs aber nur oberflächliche Motivationen. Es liegt dann an uns Therapeuten, den Patienten zu vermitteln, dass wir nur Trainer sind und sie sich selbst aus der Sucht retten müssen. SN: Wie hängen Genuss und Sucht zusammen? Schützt es vor der Sucht, das Leben in Maßen zu genießen? Das glaube ich wohl. Provokativ gesagt ist Genuss das absolute Gegenteil der Sucht. Der süchtige Mensch kann nicht genießen, er handelt reflexhaft. Das sieht man beim Raucher: Ob er zu viel Stress hat oder ob ihm langweilig ist, ob er zu viel Appetit hat oder zu wenig, ob er ausgeschlafen ist oder übermüdet – der reflexhafte Griff zur Zigarette ist immer der gleiche. Das hat nichts mehr mit Genuss zu tun. Wenn jemand eine Substanz im wahrsten Sinne des Wortes genießt, glaube ich nicht, dass er süchtig wird. Ich habe in meinen 35 Jahren als Chefarzt im Krankenhaus Maria Ebene höchstens ein Dutzend Patienten behandelt, die Weinkenner waren. Das zeigt, dass der hoch kultivierte Genuss letztlich das Gegenteil von Sucht ist. Dem Süchtigen geht es um Berauschung. Der Genuss dagegen hat nicht nur mit berauscht sein zu tun, sondern er spricht den Geschmackssinn an, unser kulturelles Empfinden und vieles andere mehr. Genuss ist eine Ekstase ohne Zwang. Es mag eine Leidenschaft sein, aber es ist keine Abhängigkeit wie die Sucht. Dieses Bedürfnis nach Ent-Rückung, nach Ekstase, hat der Mensch. Aber um das genießen zu können, muss es gut kultiviert sein, z. B. indem es in einen Ritus eingebunden ist.
Es ginge bei jungen Menschen darum, dass sie alkoholmündig werden, dass sie wissen, ich werde in dieser Gesellschaft nicht ohne Alkohol leben können, vielleicht auch nicht ohne Drogen, aber ich muss die Macht über die Droge behalten.
SN: Was sagen Sie jungen Leuten, die Drogen ausprobieren wollen? Ich sage, wenn du unbedingt einmal einen über den Durst trinken oder Drogen probieren möchtest, dann mache es geplant. Nicht beim Ballermann auf Mallorca, weil dort die Sache entgleitet. Zweitens mache es nur in einer sicheren Situation, nicht wenn du nachher mit dem Auto fahren musst. Und drittens mache es nur, wenn die Ausgangsstimmung gut ist. Denn im Rausch kommt es zur Verdichtung der Ausgangsstimmung. Wenn ich fröhlich bin, werde ich noch fröhlicher, aber wenn ich depressiv bin, steigert sich diese Depression bis zur Suizidgefahr.
Idealerweise wäre es richtig, wenn der Vater mit seinem Sohn das erste Bier trinkt.
SN: Ob der Sohn das will? Wenn aus dem Autoritätsverhältnis ein freundschaftliches Verhältnis geworden ist, sollte das – idealerweise – möglich sein.
Reinhard Haller war mehr als 35 Jahre lang Leiter der Suchtklinik Maria Ebene. Viel gelesene Bücher des Psychiaters sind „Die Macht der Kränkung“, „Die Narzissmusfalle“, „Nie mehr süchtig sein – Leben in Balance“.
Ideal wäre es, wenn der Vater selbst das erste Bier mit seinem Sohn trinkt. Reinhard Haller Psychiater und Suchtexperte BILDER: SN/RATZER, FOTOLIA-MICROMT