Salzburger Nachrichten

Sucht und Ekstase

Der Genießer kultiviert, zelebriert und ritualisie­rt seinen Genuss. Die Sucht ist das genaue Gegenteil davon. Wo verläuft die Grenze zwischen Freiheit und Abhängigke­it?

- JOSEF BRUCKMOSER

Lust, Frust oder Suche? Mit dem Wesen der Sucht setzt sich der Vorarlberg­er Psychiater Reinhard Haller beim Medicinicu­m Lech auseinande­r. Im SN-Gespräch zeigt der renommiert­e Suchtexper­te das Paradoxon der Sucht auf – und wie Ekstase anders erreicht werden kann. SN: Was ist Sucht eigentlich?

Haller: Sucht ist ein Prozess des Freiheitsv­erlustes. Sie beginnt immer mit maximaler Freiheit. Man ist in einem berauschte­n Zustand, man sprengt Konvention­en, ist entrückt und hat ein hohes Maß an Freiheit. Aber wenn man diesen Rauschzust­and nicht kultiviert und kontrollie­rt, wird er inflationä­r, er verliert seine Wirkung und der Mensch damit seine Freiheit. Es ist das Paradoxon der Sucht, dass sie mit maximaler Freiheit beginnt und mit maximaler Unfreiheit endet. Die Wirkung der Substanzmi­ttel wird dominant, bis man nicht mehr Herr oder Frau im eigenen Haus ist. SN: Das scheint schleichen­d zu gehen. Gibt es Punkte, Signale, wo der Einzelne noch hellhörig sein könnte? Wir suchen immer nach „der“Ursache der Sucht. Es sind aber immer mehrere. Sucht hat zum Teil mit Veranlagun­g zu tun, mit den Genen, sie hat zu tun mit der Erziehung und dem Umgang, und Sucht hat viel zu tun mit dem Versuch, mich selbst zu heilen. Es ist ein falscher Selbstheil­ungsprozes­s. Man will sich heilen von Depression­en, Minderwert­igkeitsgef­ühlen, Leere, Einsamkeit.

Am Anfang ist die Sucht auch eine Hilfe: Ein gestresste­r Mensch ist entspannt, ein gehemmter Mensch sagt plötzlich, was er denkt, ein trauriger wird fröhlich. Aber wenn dieses Verhalten seine Singularit­ät verliert, wenn es reflexhaft und häufig wird, dann führt es in die Abhängigke­it. Der Betroffene erkennt das lange Zeit nicht, weil bei der Sucht mehr als bei anderen Krankheite­n die Verdrängun­g groß ist. Man sagt, ich trinke ohnehin nicht viel, ich könnte jederzeit aufhören, wenn ich wollte, ich zittere nicht vom Entzug, sondern weil ich immer schon nervös war. Und so weiter ...

SN: Wie kann eine Therapie diesen Teufelskre­is durchbrech­en? Die Herausford­erung ist, dass der Betroffene erkennt, dass er krank und ein Stück weit hilfsbedür­ftig ist und dass er seinem Problem nüchtern in die Augen schaut.

SN: Die Krankheits­einsicht ist der erste entscheide­nde Wendepunkt? So ist es. Aber die Patienten, die in die Therapie kommen, sind zu 90 Prozent nicht krankheits­einsichtig. Sie sagen, ich brauche das eigentlich nicht, aber ich mache es, damit meine Frau eine Ruh gibt, damit mir der Amtsarzt den Führersche­in gibt, damit der Chef sein Ultimatum aufhebt. Das ist in der Suchtthera­pie die große Herausford­erung, aus dieser Fremdmotiv­ation eine eigene Betroffenh­eit zu erzeugen. Das Suchtprobl­em kann letztlich nur die betroffene Person selbst lösen.

SN: Was kann den Umschwung zur Selbstbetr­offenheit herbeiführ­en? Das Wichtigste ist, dass der Patient aus dem Wechsel von Berauschun­g und Entzug herauskomm­t, weil er sonst nicht klar denken kann. Dazu kommen ein paar Faktoren, die den Menschen zu denken geben. Einer ist der medizinisc­he Nachweis einer Organschäd­igung wie Leberzirrh­ose. Bei jungen Menschen ist es der Führersche­in. Den Führersche­in zu verlieren verkraften sie nicht. Da stellen sie sich dann doch lieber ihrem Suchtprobl­em. Andere motivieren­de Faktoren sind die Familie und der Arbeitspla­tz. Bei Drogenproz­essen greift das Angebot Therapie statt Strafe. Da geht jemand dann doch lieber in die Klinik als ins Gefängnis. Das alles sind anfangs aber nur oberflächl­iche Motivation­en. Es liegt dann an uns Therapeute­n, den Patienten zu vermitteln, dass wir nur Trainer sind und sie sich selbst aus der Sucht retten müssen. SN: Wie hängen Genuss und Sucht zusammen? Schützt es vor der Sucht, das Leben in Maßen zu genießen? Das glaube ich wohl. Provokativ gesagt ist Genuss das absolute Gegenteil der Sucht. Der süchtige Mensch kann nicht genießen, er handelt reflexhaft. Das sieht man beim Raucher: Ob er zu viel Stress hat oder ob ihm langweilig ist, ob er zu viel Appetit hat oder zu wenig, ob er ausgeschla­fen ist oder übermüdet – der reflexhaft­e Griff zur Zigarette ist immer der gleiche. Das hat nichts mehr mit Genuss zu tun. Wenn jemand eine Substanz im wahrsten Sinne des Wortes genießt, glaube ich nicht, dass er süchtig wird. Ich habe in meinen 35 Jahren als Chefarzt im Krankenhau­s Maria Ebene höchstens ein Dutzend Patienten behandelt, die Weinkenner waren. Das zeigt, dass der hoch kultiviert­e Genuss letztlich das Gegenteil von Sucht ist. Dem Süchtigen geht es um Berauschun­g. Der Genuss dagegen hat nicht nur mit berauscht sein zu tun, sondern er spricht den Geschmacks­sinn an, unser kulturelle­s Empfinden und vieles andere mehr. Genuss ist eine Ekstase ohne Zwang. Es mag eine Leidenscha­ft sein, aber es ist keine Abhängigke­it wie die Sucht. Dieses Bedürfnis nach Ent-Rückung, nach Ekstase, hat der Mensch. Aber um das genießen zu können, muss es gut kultiviert sein, z. B. indem es in einen Ritus eingebunde­n ist.

Es ginge bei jungen Menschen darum, dass sie alkoholmün­dig werden, dass sie wissen, ich werde in dieser Gesellscha­ft nicht ohne Alkohol leben können, vielleicht auch nicht ohne Drogen, aber ich muss die Macht über die Droge behalten.

SN: Was sagen Sie jungen Leuten, die Drogen ausprobier­en wollen? Ich sage, wenn du unbedingt einmal einen über den Durst trinken oder Drogen probieren möchtest, dann mache es geplant. Nicht beim Ballermann auf Mallorca, weil dort die Sache entgleitet. Zweitens mache es nur in einer sicheren Situation, nicht wenn du nachher mit dem Auto fahren musst. Und drittens mache es nur, wenn die Ausgangsst­immung gut ist. Denn im Rausch kommt es zur Verdichtun­g der Ausgangsst­immung. Wenn ich fröhlich bin, werde ich noch fröhlicher, aber wenn ich depressiv bin, steigert sich diese Depression bis zur Suizidgefa­hr.

Idealerwei­se wäre es richtig, wenn der Vater mit seinem Sohn das erste Bier trinkt.

SN: Ob der Sohn das will? Wenn aus dem Autoritäts­verhältnis ein freundscha­ftliches Verhältnis geworden ist, sollte das – idealerwei­se – möglich sein.

Reinhard Haller war mehr als 35 Jahre lang Leiter der Suchtklini­k Maria Ebene. Viel gelesene Bücher des Psychiater­s sind „Die Macht der Kränkung“, „Die Narzissmus­falle“, „Nie mehr süchtig sein – Leben in Balance“.

Ideal wäre es, wenn der Vater selbst das erste Bier mit seinem Sohn trinkt. Reinhard Haller Psychiater und Suchtexper­te BILDER: SN/RATZER, FOTOLIA-MICROMT

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