Libellen beflügeln die Technik
Die Wasserjungfern setzen konsequent auf Leichtbau und Effektivität. Doch Wissenschaftern ist es bis heute nicht gelungen, sie nachzubilden und für alternative Antriebskonzepte zu nutzen.
Die Wasserjungfern setzen auf Leichtbau und Effektivität. Doch Wissenschaftern ist es noch nicht gelungen, sie nachzubilden und für alternative Antriebskonzepte zu nutzen.
„Es gibt bis heute keine technischen Entsprechungen.“ Robin J. Wootton, Insektenforscher
Libellen sind Tiere der Superlative: Ihre Stammesgeschichte reicht bis in das Obere Karbon zurück, also mehr als 300 Millionen Jahre, in eine Zeit, in der es noch keine Dinosaurier gab. Mit ihren vier Flügeln erreichen die großen Edellibellen nicht nur stolze 50 km/h und mehr, sie beschleunigen die Flugakrobaten auch mit katapultartigen 30 g, also mit 30-facher Erdbeschleunigung. Zum Vergleich: Der Eurofighter schafft gerade einmal 9 g. Kolibriartiges Stillstehen in der Luft, Loopings, ja sogar der Rückwärtsflug: Alles kein Problem für diese Flugkünstler mit ihrem arretierbaren Kopf und den 30.000 Augen, denen praktisch keine Bewegung entgeht.
Libellen sind so erfolgreich, dass sie sich seit Hunderten Millionen Jahren so gut wie überhaupt nicht weiterentwickeln mussten. Sie sind perfekt an ihren Lebensraum Gewässerufer angepasst, und zwar schon seit Urzeiten. Fachleuten zählen sie deshalb auch zu den „lebenden Fossilien“, sie sind lebende Legenden, wenn man so will.
Warum das so ist, interessiert vor allem die Bioniker, die sich gern so manches von den kleinen Hightech-Fliegern abschauen möchten. Einige Geheimnisse konnten die Wissenschafter den Tieren auch schon entlocken, viele andere noch nicht. Vor allem interessieren sich die Forscher natürlich für die schier unglaublichen Flugleistungen der Libellen, stehen aktuell doch alternative Antriebskonzepte in der Luft- und Raumfahrttechnik hoch im Kurs.
Robin J. Wootton von der britischen Universität von Exeter erforscht seit Jahren die Flügel der Insekten und ist fasziniert: „Es gibt bis heute ganz einfach keine technischen Entsprechungen“, sagt der britische Insektenforscher und international renommierte Experte für Libellenflügel. In der Tat setzen die Wasserjungfern so konsequent auf Leichtbau und Effektivität, dass es den Wissenschaftern bis heute nicht gelungen ist, sie nachzubilden und für alternative Antriebskonzepte zu nutzen. Obwohl die Flügel gerade einmal zwei Prozent des Körpergewichts einer Libellen ausmachen, sind sie doch fest und flexibel zugleich und vor allem hoch belastbar. Die eigentliche Flugmembran, die vor allem aus reißfestem Chitin besteht, ist mit Bruchteilen eines einzigen Millimeters nur hauchdünn und entsprechend leicht. Stabilität bekommt sie vor allem durch einen Trick, an dem sich die Bioniker zurzeit noch die Zähne ausbeißen. Der gesamte Flügel ist nämlich mit einem verstärkenden Aderwerk durchzogen, zwischen dessen feinen Verästelungen die Membran verspannt ist.
Der Trick dabei: Das geschieht nicht etwa zweidimensional in einer Ebene, sondern dreidimensional, indem die einzelnen winzigen Membranabschnitte zickzackartig gegeneinander abgewinkelt werden, ein bisschen so wie bei einem zerknitterten Blatt Papier. Der Stabilitätsgewinn ist enorm. „Vergessen darf man dabei aber nicht“, sagt Wootton, „dass unser Wissen immer noch höchst unvollständig ist, denn die einzelnen morphologischen Variablen interagieren auf eine Art und Weise, die wir noch nicht vollständig verstanden haben.“
Leistungsfähige Flügel allein sind nämlich längst nicht alles, was eine Libelle auszeichnet, die Flügel wollen schließlich auch angetrieben werden. Wasserjungfern setzen dabei auf enorme Muskelpakete, die direkt an die Flügel angesetzt sind. Mit lediglich 30 Flügelschlägen pro Sekunde erreicht eine große Edellibelle dann auch 50 km/h und mehr, eine Geschwindigkeit also, von der andere Insekten selbst mit vielen Hundert Flügelschlägen pro Sekunde nur träumen können.
Vor allem die beeindruckenden Beschleunigungswerte von 30 g sind es aber, die es den Bionikern angetan haben. Ein Jetpilot würde nicht erst bei 30-facher Erdbeschleunigung schlicht und einfach das Bewusstsein verlieren, wenn sein Blut dabei aus dem Kopf und dem Oberkörper gedrängt und in die Beine und Füße gepresst würde. Auch hier haben die Libellen wieder einen Trick auf Lager, für den sich die Forscher interessieren. Im Gegensatz zu uns Menschen verfügen die Insekten über einen „offenen Blutkreislauf“. Ihre Organe sind ständig vom Insektenblut umspült, sie schwimmen praktisch darin, kann man sagen, ganz im Gegensatz zu den unsrigen, die durch ein Röhrensystem von Adern und Venen versorgt werden.
Der Vorteil der Libellen: Die Versorgung ihrer Organe ist auch bei brachialer Beschleunigung und immensen Fliehkräften immer sichergestellt. Derartige Beschleunigungsorgien wirken sich aber auch auf andere Körperteile aus. Der Kopf der Libellen ist derart schwer, dass die Tiere durch die enormen Fliehkräfte, die bei den außergewöhnlichen Flugmanövern auftreten, im wahrsten Sinne des Wortes ihren Kopf verlieren würden, könnten sie ihn nicht ganz einfach am Körper fixieren. Der Verschluss, der dieses „head-arresting system“ermöglicht, interessiert nun wieder die Bioniker. Es handelt sich hierbei um eine Art Klettverschluss auf Basis von Nanostrukturen, wie die Forscher herausgefunden haben. Die Vorteile dieses Systems gegenüber dem herkömmlichen Klettverschluss, den wir aus dem Alltag kennen, sind zum einen die deutlich festere Verbindung und zum anderen ein wesentlich geringeres Abnutzungsverhalten des Nanopendants.
Der Kopf einer Libelle ist natürlich nicht nur so zum Spaß derart schwer, vor allem die 30.000 Facettenaugen sind es, die massiv ins Gewicht fallen. Die enorme Augenanzahl trägt aber auch ganz entscheidend zum Geheimnis ihres Erfolgs bei. Wissenschafter der Harvard University in Bedford, Massachusetts, haben das eindrucksvoll mit Zahlen untermauert: Stacey A. Combes und ihr Team dokumentierten das Jagdverhalten der Segellibelle Libellula cyanea, die es speziell auf Fruchtfliegen abgesehen hatte, gleich mit mehren Kameras gleichzeitig. Stacey Combes resümiert: „90 Prozent der Fruchtfliegen konnten erbeutet werden. Ein durchschnittlicher Jagdflug dauerte gerade einmal eine halbe Sekunde.“
Libellen attackierten ihre Beute von hinten unten kommend. Diesen Bereich kann die Fruchtfliege schlecht überblicken, da er durch den eigenen Körper verdeckt wird. Zum anderen ist die Libelle aus Sicht der Fliege schlecht auszumachen, da sie von unten kommend vor dem unregelmäßigen Uferbewuchs gut getarnt ist.
Der Libelle hilft auch ihr spezieller Blick für Bewegungen. Während wir Menschen schon die 24 einzelnen Bilder, die ein Kinofilm liefert, nicht mehr optisch sauber voneinander trennen können und so nur noch Bewegungsabläufe wahrnehmen, zerhackt der Zeitlupenblick der Libelle jede noch so schnelle Bewegung in 175 Einzelbilder. Alles kommt einer Libelle also quälend langsam vor, selbst das schnellste Fluchtmanöver eines Beutetiers. Mit diesem speziellen Blick für Zeitabläufe dürften ihnen die letzten 300 Millionen Jahre wohl wie eine kleine Ewigkeit vorgekommen sein.