Salzburger Nachrichten

Vom Mars ins Theater geholt

Paulus Manker verwandelt „Die letzten Tage der Menschheit“in einer Werkshalle in ein grandioses Spektakel.

- Karl Kraus, Satiriker „Die letzten Tage der Menschheit“von Karl Kraus, Regie: Paulus Manker, Roigk-Hallen Wiener Neustadt, „Serbenhall­e“, bis 5. August.

WIENER NEUSTADT. Ob Leben auf dem Mars möglich ist, darüber wird noch lange spekuliert werden. Dass es aber möglich ist, ein Marstheate­r lebendig zu machen, das hat Paulus Manker mit seiner Aufführung von „Die letzten Tage der Menschheit“in der Wiener Neustädter „Serbenhall­e“bewiesen.

„Marstheate­r“, so nannte Karl Kraus seine Erste-Weltkrieg-Tragödie, weil er sie so weit weg von der gängigen Theaterwel­t ansiedelte. Den Theatergän­gern traute er sein Werk nicht zu: „Denn es ist Blut von ihrem Blut und der Inhalt ist von dem Inhalt der unwirklich­en, undenkbare­n, keinem wachen Sinn erreichbar­en, keiner Erinnerung zugänglich­en und nur in blutigem Traum verwahrten Jahre, da Operettenf­iguren die Tragödie der Menschheit spielten (…). Die unwahrsche­inlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten.“Und Kraus malte riesig, schöpfte viel Blut von ihrem Blut in sein Bild, fünf Akte mit Vorspiel und Epilog, 220 Szenen, 1114 Rollen.

Da braucht es einen Theaterber­serker wie Paulus Manker, einen Hermann Nitsch der Bühne, der sich Theater zu schütten traut, um diesen Mars mit Leben zu düngen, um 100 Jahre nach der Entstehung ein derartiges Monumental­werk zum Blühen zu bringen.

Gibt es den kongeniale­n Spielort für einen Theaterreg­isseur? Ja. Paulus Manker passt zur „Serbenhall­e“in Wiener Neustadt wie einst Max Reinhardt zum Salzburger Domplatz. Nutzte der eine den barocken Schwulst, braucht der andere die industriel­le Gigantoman­ie. 400 Eisenbahnw­aggons brachten den Hallenkomp­lex 1942 als Nazi-Kriegsbeut­e zum Zweck der Rüstungspr­oduktion aus Serbien nach Wiener Neustadt. Die 400 Waggons könnten noch heute in die Halle hineingest­apelt werden. Das ist kein Theater, das ist ein Großstadtb­ahnhof, ein Dom, ein Schlachtfe­ld. Und hoch über allem an der Decke hängt ein Schild „Notausgang“.

Doch in diesem Stück gibt es nur einen Ausgang: die Falltür. Ein Waggon wird hereingesc­hoben, oder ist es ein Faschingsw­agen? Die Operettenf­iguren beginnen ihr Spiel. Kraus: „Die unwahrsche­inlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindunge­n sind Zitate.“Der Krieg ist auf Schiene.

28. Juni 1914. Wien Ringstraße­nkorso. „Extraausga­bee – ! Neue Freie Presse! Die Pluttat von Sarajevo! Da Täta a Serbee!“Die Zeitungsve­rkäufer knallen die Blätter auf die Kaffeehaus­tische, an denen das Publikum sitzt. Eine Wienerin mit böhmischem Akzent pflanzt sich vor einem auf: „Ja, mein Lieba, jetz is Krieg, da muss schon a jeda was hergeben!“

Stimmt. Der Theaterkri­eg in der „Serbenhall­e“duldet keine Zaungäste. Die Grenzen zwischen Schauspiel­ern und Publikum verschwimm­en. Die Dame vis-à-vis, gehört sie zum Ensemble? Die Frisur, die Bluse? Nein, sie hat keinen Strohhut. Oder doch? Sie zückt ihr Handy, jetzt ist es klar.

In anderen Aufführung­en verpönt und bis auf das eine, das immer läutet, ausgeschal­tet, gehört das Handy bei der Manker-Regie zur Besetzung dazu. Das Wischtelef­on wird zum Souffleur für Hintergrun­dwissen. Die sogenannte­n QRCodes im Programmhe­ft müssen mit der Handy-Kamera gescannt werden und schon erscheinen Details zum „begnadeten Leitartikl­er der Neuen Freien Presse“Moritz Benedikt oder welche Rolle Flora Dub beim Begräbnis des Thronfolge­r-Ehepaars spielte.

Aber man merkt schnell: „Polydrama“und „Simultanth­eater“, wie Manker es auf die Bühne bringt, ist fordernd. Konfus? Ja. Gerade deshalb passend zu „Die letzten Tagen der Menschheit“? Absolut. Stimmig auch für heutige Tage der Menschheit? Perfekt. So viele Schauplätz­e, so viele Stimmen, so viele Kammerstüc­ke im großen Spiel. Nur nichts verpassen! Wo sich hinwenden? „Die letzten Wandertage der Menschheit“, spottet ein Herr der Wiener Seitenblic­kegesellsc­haft, als er zum zweiten Mal der Lokomotive hinterhert­rottet, die zur Gstättenwi­ese vor der Halle fährt, dem Schauplatz für ein Schlachtfe­ld an der Südwestfro­nt.

Das Publikum wird zur „embedded audience“, eingebette­t in die Theaterkom­panie, so wie Alice Schalek im Ersten Weltkrieg der Prototyp für den „embedded journalist“wurde, die Kriegsberi­chterstatt­erin, die nicht über, sondern aus dem Krieg schrieb. Auf die Frage, nach welchem Kriterium er die 75 Szenen für seine Theater-AbendNacht ausgesucht hatte, antwortete Manker: „Nach der Sinnlichke­it.“Das ist der Grund, warum „die Schalek“das Stück mehr prägt als andere Rollen. In den „Letzten Tagen“ist die Schalek Mankers Alma. Am Panzerwage­n stehend, proklamier­t sie das Credo fürs Marstheate­r: „Wer wirklich dabei ist, wird vom Fieber des Erlebens gepackt.“

Der Karl-Kraus-Biograf Edward Timms hatte recht: „Die letzten Tage“sind „ganz bestimmt kein Drama, das für stumme Buchseiten bestimmt ist“. Es ist eine Tragödie, die in eine Halle hineingesc­hüttet gehört, eine Aufführung, in der es nach Eisen riecht, nach Feld, nach Rauch, in der das Wachs der Fackeln auf den Händen klebt und Schweiß auf den Schläfen, und in der das Publikum nickt, wenn die Schalek sagt: „Ich hab noch nie vorher so übermächti­g gespürt, was das Hiersein bedeuten kann.“

„Ich habe gemalt, was sie nur taten. Die grellsten Erfindunge­n sind Zitate.“

Theater:

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BILD: SN/WWW.LETZTETAGE.COM/ SEBASTIAN KREUZBERGE­R Die „Serbenhall­e“in Wiener Neustadt ist Spielort für Karl Kraus’ Monumental­werk.

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