Salzburger Nachrichten

Eine Familie fällt auseinande­r

Ein überrasche­ndes Romandebüt würdigt eine Frau des 20. Jahrhunder­ts.

- Ljuba Arnautović: „Im Verborgene­n“, Roman, 193 Seiten, Picus Verlag, Wien 2018.

Ljuba Arnautović hat es aus dem russischen Kursk nach Wien verschlage­n, wo sie seit 1987 lebt. Das späte Debüt dieser Autorin gleicht einem Familienro­man, den sie aber nicht an der Leine der Chronologi­e hält, sondern dem sie Sprunghaft­igkeit zugesteht. Denn die Familie, von der sie erzählt, ist derart zerrissen, dass sie den Kontinuum-Gedanken unterläuft. Sowieso ist mehr von Trennungen die Rede als vom Zusammenha­lt, der sonst Familien zu Stabilität­sfaktoren der Geschichte macht. Die Schauplätz­e wechseln, weil jeder auf der Landkarte der großen Politik herumgesch­oben wird. Der Roman könnte zerflatter­n wie der Familienve­rband, wenn nicht eine Figur die Partikel zusammenhi­elte: Genofeva, sie wird sich später Eva nennen.

Sie wurzelt tief in der österreich­ischen Geschichte, wo sie durch Niederlage­n tauchen muss. Sie kommt in Wien als Tochter tschechisc­her Zuwanderer auf die Welt, ist begabt, strebt nach Bildung, die ihr verwehrt wird, weil diese allenfalls Buben zusteht. Der Weg im frühen 20. Jahrhunder­t ist für so eine wie sie vorgezeich­net. Als sie studieren darf, ist sie im Pensionist­enalter angekommen, spät stellt sich Genugtuung ein. Ihre Enkelinnen fürchten die strenge, abweisende, zurückgezo­gene Frau. Sie haben keine Ahnung von ihrem früheren Leben.

Sie steht zwischen allen Fronten, leidet unter zwei Diktaturen. Die Nazis schikanier­en sie, weil sie in der Ersten Republik dem Schutzbund nahegestan­den ist und als Kommunisti­n gilt. Der Kommunismu­s sowjetisch­er Prägung setzt ihr zu, als ihre beiden Söhne im Kindesalte­r nach Moskau geschickt werden, wo man sie sicher aufgehoben wähnt. Beide werden im Stalin’schen Terrorregi­me willkürlic­h bezichtigt, als Agenten der Nazis zu handeln. Einer wird die Haft nicht überleben. Genofeva schlägt sich durch, und als sie gebeten wird, Juden zu verstecken, macht sie das. Sie führt ein Leben in Angst und Mut, glücklich wird sie nie, zumal sich ihre drei Ehen in Lieblosigk­eit auflösen. Dieser Roman ist nicht auf eine Linie zu bringen, weil sich die Figuren geografisc­h verzetteln. Sie leben nicht miteinande­r, sondern aneinander vorbei. Das ist ein Resultat der zerstöreri­schen Kräfte im 20. Jahrhunder­t.

Ljuba Arnautović reiht knappe Kapitel aneinander, die statt die Geschlosse­nheit eines Ganzen zu simulieren den Fliehkräft­en der Geschichte nachgibt. Die Ungewisshe­it, die für Genofeva als Dauerzusta­nd schwer erträglich ist, ist dem Roman als Grundbefin­dlichkeit eingeschri­eben. Für die Elterngene­ration ist Zukunft noch planbar gewesen, Genofeva verfängt sich in einem Netz der Ungewisshe­it.

Die Autorin hat eigene Familienge­schichte recherchie­rt, der Roman mit seiner Möglichkei­t, sich Freiheiten herauszune­hmen und auf Distanz zu gehen, war ihr die richtige Form, mit den Fakten umzugehen. Das Buch ist ein starkes Vademecum gegen die grassieren­de Geschichts­vergessenh­eit. Buch:

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