Eine Familie fällt auseinander
Ein überraschendes Romandebüt würdigt eine Frau des 20. Jahrhunderts.
Ljuba Arnautović hat es aus dem russischen Kursk nach Wien verschlagen, wo sie seit 1987 lebt. Das späte Debüt dieser Autorin gleicht einem Familienroman, den sie aber nicht an der Leine der Chronologie hält, sondern dem sie Sprunghaftigkeit zugesteht. Denn die Familie, von der sie erzählt, ist derart zerrissen, dass sie den Kontinuum-Gedanken unterläuft. Sowieso ist mehr von Trennungen die Rede als vom Zusammenhalt, der sonst Familien zu Stabilitätsfaktoren der Geschichte macht. Die Schauplätze wechseln, weil jeder auf der Landkarte der großen Politik herumgeschoben wird. Der Roman könnte zerflattern wie der Familienverband, wenn nicht eine Figur die Partikel zusammenhielte: Genofeva, sie wird sich später Eva nennen.
Sie wurzelt tief in der österreichischen Geschichte, wo sie durch Niederlagen tauchen muss. Sie kommt in Wien als Tochter tschechischer Zuwanderer auf die Welt, ist begabt, strebt nach Bildung, die ihr verwehrt wird, weil diese allenfalls Buben zusteht. Der Weg im frühen 20. Jahrhundert ist für so eine wie sie vorgezeichnet. Als sie studieren darf, ist sie im Pensionistenalter angekommen, spät stellt sich Genugtuung ein. Ihre Enkelinnen fürchten die strenge, abweisende, zurückgezogene Frau. Sie haben keine Ahnung von ihrem früheren Leben.
Sie steht zwischen allen Fronten, leidet unter zwei Diktaturen. Die Nazis schikanieren sie, weil sie in der Ersten Republik dem Schutzbund nahegestanden ist und als Kommunistin gilt. Der Kommunismus sowjetischer Prägung setzt ihr zu, als ihre beiden Söhne im Kindesalter nach Moskau geschickt werden, wo man sie sicher aufgehoben wähnt. Beide werden im Stalin’schen Terrorregime willkürlich bezichtigt, als Agenten der Nazis zu handeln. Einer wird die Haft nicht überleben. Genofeva schlägt sich durch, und als sie gebeten wird, Juden zu verstecken, macht sie das. Sie führt ein Leben in Angst und Mut, glücklich wird sie nie, zumal sich ihre drei Ehen in Lieblosigkeit auflösen. Dieser Roman ist nicht auf eine Linie zu bringen, weil sich die Figuren geografisch verzetteln. Sie leben nicht miteinander, sondern aneinander vorbei. Das ist ein Resultat der zerstörerischen Kräfte im 20. Jahrhundert.
Ljuba Arnautović reiht knappe Kapitel aneinander, die statt die Geschlossenheit eines Ganzen zu simulieren den Fliehkräften der Geschichte nachgibt. Die Ungewissheit, die für Genofeva als Dauerzustand schwer erträglich ist, ist dem Roman als Grundbefindlichkeit eingeschrieben. Für die Elterngeneration ist Zukunft noch planbar gewesen, Genofeva verfängt sich in einem Netz der Ungewissheit.
Die Autorin hat eigene Familiengeschichte recherchiert, der Roman mit seiner Möglichkeit, sich Freiheiten herauszunehmen und auf Distanz zu gehen, war ihr die richtige Form, mit den Fakten umzugehen. Das Buch ist ein starkes Vademecum gegen die grassierende Geschichtsvergessenheit. Buch: