„Wir sind eine große Familie“
Die Fußball-WM hat Russland in den letzten vier Wochen verändert. Auch die Provinz. Aber Aufbruchsstimmung herrscht nur bei den Kindern. Ein SN-Lokalaugenschein.
Ilja, 11, verkündet: „Ich bin für Neymar.“Obwohl Neymar immer schauspielert? „Ilja schauspielert doch selbst genauso“, die anderen Buben lachen. Auf dem Fußballplatz des 14.000-Seelen-Städtchens Ziwilsk, 700 Auto-Kilometer östlich von Moskau, haben alle Jungs ihre Idole. Und jetzt sogar zwei. Ilja vergöttert Neymar aus Brasilien und den russischen Halbstürmer Denis Tscheryschew, der 14-jährige Kiril den Argentinier Messi und Russlands Mittelfeldregisseur Alexander Golowin.
Russland lebt in einer neuen Fußballwirklichkeit. Vor dem sensationellen Erreichen des Viertelfinales bei der Heim-WM galten die eigenen Nationalspieler als Haufen überbezahlter Versager, jetzt eifern die russischen Fußballkinder auch ihnen nach. „Wir wollen sein wie Stefan Scholl berichtet für die SN aus Russland sie“, erklärt Kiril. „Und dafür müssen wir uns jetzt noch viel mehr anstrengen!“
Die Fußball-WM, davon sind auch die meisten Erwachsenen in Ziwilsk überzeugt, hat ihr Land verändert. „Das wichtigste Ergebnis des Turniers ist Geschlossenheit“, sagt Alexander Grigorjew, 32. Er stürmt für den Fußballclub BoMiK Ziwilsk, gegründet noch in der Sowjetunion und nach dem ersten Trainer „Boris Michailowitsch und Mannschaft“benannt, russisch kurz BoMiK. „Die Nationalspieler und die Zuschauer“, so Grigorjew, „wir sind jetzt alle eine große Familie.“Es sind patriotische Tage in ganz Russland, die Medien feiern das Geschehen vor allem als Rückkehr zu vergangenem Heroismus. „Früher habe ich solche Gesichter nur in Filmen über den Krieg gesehen“, schreibt ein Reporter der Zeitung „Sowetski Sport“über die beseelten Mienen der Nationalkicker. „So haben wohl auch Leute ausgesehen, die unter Stalin besonders verantwortungsvolle Parteiaufgaben erfüllten.“
Viele ausländische Fans hat Ziwilsk nicht erlebt. Immerhin, in einem Wolgastrandcafé im 35 Kilometer entfernten Tscheboksary steht ein Deutschlandfähnchen im Fenster, ein Schlachtenbummler soll es auf dem Weg nach Kasan dagelassen haben. Aber die russischen TV-Sender wiederholen täglich die gleichen Übersetzungstonspuren zu Bildern lächelnder Fremdländer: „Man hat uns belogen. Russland ist ein wunderbares Land und die Russen gastfreundliche, offene Menschen.“Die Stimmung bei dieser WM war wirklich herzlich, die Organisation gelungen, allerdings hat die Masse der Ausländer außer Fußgänger- und Fan-Zonen kaum etwas gesehen vom Land. Die Botschaft der Staatsmedien ans eigene Publikum aber lautet generell: „Endlich weiß es die ganze Welt, wir sind wunderbar. Und ändern müssen wir nichts!“
Auch Kiril und die anderen sonnenverbrannten Buben auf dem Sportplatz fühlen sich als kleiner Teil des neuen, schönen, großen Ganzen, das Russland heißt. Dutzende Kinder verbringen ihre Tage auf dem dunkelgrünen Teppich des Kunstrasenplatzes am Stadtrand. Obwohl Ferien sind und keine Trainer da. Sie kicken, sie plaudern, träumen und kicken wieder, Stunde um Stunde. BoMiK-Stürmer Grigorjew ist überzeugt: „Die WM wird ge- rade dem Jugendfußball einen gewaltigen Impuls geben.“
Vor wenigen Jahren hat Ziwilsk ein neues Sportzentrum bekommen, mit Turnhalle, Schwimmbad und einem Kunstrasenplatz, für alle ganztägig geöffnet. Im Rahmen eines staatlichen Programms sind außer in Ziwilsk in fast allen Kreiszentren der Republik Tschuwaschien solche Anlagen gebaut worden. BoMiK kickt in der Oberliga. „Da spielen zehn Vereine“, sagt Grigorjew, „zwei auf Wiesen, alle anderen auf Kunstrasen.“
Und sein Spielertrainer Alexander Sajun reißt die Arme auseinander, um den Unterschied zwischen den materiellen Voraussetzungen für russische Fußballer heute und in der Sowjetzeit zu demonstrieren. Aber Sajun sagt auch, vielen jungen Spielern sei es wichtiger, einen roten und einen gelben Fußballschuh zu tragen, als enge Ballführung zu üben. Außerdem fehle es an qualifizierten Nachwuchstrainern. Sajun, 43, weiß, wovon er spricht, er hat in der usbekischen Nationalmannschaft gespielt, für russische Proficlubs wie Torpedo Moskau, war später Jugendtrainer im provinziellen Pensa. „Statt Talent zählt heute Kommerz“, schimpft er. Oft kämen nicht die fähigeren Jungs in die Nachwuchskader der großen Proficlubs, sondern die, deren Eltern mehr Schmiergeld zahlten.
In Ziwilsk aber haben die Leute nicht nur Fußball im Kopf. Als Russland in der Verlängerung des Viertelfinales gegen Kroatien in Rückstand geraten ist, als auch in der Sushi-Pizza-Bar „Samurai“die Spannung eskaliert ist, begannen zwei Männer am Tisch, eifrig eine Angelpartie auf der Wolga zu erörtern. Spielertrainer Sajun klagt, ein Teil seiner Männer habe keine Lust, drei Mal die Woche zu trainieren. Und deshalb klappe es mit dem Aufstieg wieder nicht. Aber sein Sturmtank Grigorjew erklärt, er fände die deutsche Definition von Fußball sehr gelungen: „die wichtigste Nebensache der Welt“.