Frank Castorf kann polarisieren wie kaum ein anderer. Der Theatertitan spricht über Politik und die Rückkehr nach Salzburg.
Kaum einer kann polarisieren wie Frank Castorf. Der 67-jährige Theatertitan spricht über seine Rückkehr zu den Salzburger Festspielen, Politik, Hipster in Berlin-Mitte und seinen inneren Antrieb.
Frank Castorf sitzt unter einem schattigen Baum im Innenhof der Halleiner Pernerinsel. Der deutsche Regisseur befindet sich mitten in den Proben zu seiner Inszenierung des Romans „Hunger“von Knut Hamsun, die am 4. August Premiere feiert.
Für die SN nimmt er sich Zeit. Viel Zeit. Die folgenden Zeilen sind der Versuch, ein bemerkenswertes zweieinhalbstündiges Gespräch in eine Form zu fassen. SN: Wissen Sie, wo Sie vor 14 Jahren den Sommer verbracht haben? Frank Castorf: Vor 14 Jahren? (überlegt) War ich da hier? Hab ich da „Kokain“inszeniert? SN: Richtig. 2004 waren Sie zuletzt bei den Salzburger Festspielen als Regisseur tätig. Wie geht es Ihnen mit der Rückkehr an diesen Platz? Na ja, ich bin ja gerne in Österreich. Man kommt her und kann jederzeit wieder mit abgeblendeten Scheinwerfern die deutsch-österreichische Grenze erreichen. Wie Sie wissen, halte ich mich ja nicht mehr im deutschen Kernland, in Preußen auf, sondern suche die katholischen Gefilde wie München und Salzburg auf. Meine Großmutter war eine polnische Katholikin oder eine katholische Polin. Daher hab ich auch den Sinn für die Schönheit der Mysterien in den katholischen Kirchen. Das ist ja wie Theater, dieser Prunk, das Barockhafte! SN: Was gefällt Ihnen denn so am Katholischen? Was ich wunderbar finde: Ich begehe Sünden, und durch die Gnade der Vergebung kann ich die nächste Sünde begehen. Das ist mir sehr nahe, dieses Perpetuum mobile des Menschen, seiner Moral, seiner Asozialität.
Manchmal bin ich selbst geneigt, Herrn Seehofer für eine komödiantisch gut geratene Pantalone-Figur zu halten, wie ein Dottore in der Commedia dell’Arte. Ich muss oft über ihn lachen. Wenn ich dann die protestantische Pastorentochter sehe, die Frau Merkel, dann ist mir Seehofer sehr sympathisch. Darf ich das sagen? Gerade als Linker sollte man solche Sachen denken. Aus meiner Erfahrung in der DDR verweigere ich die schnelle Übereinstimmung mit dem, was erwartet wird, Hamsun sagt ja auch: „Ich bin der lebende, wandelnde Widerspruch.“SN: Wir leben aber doch nicht in einem totalitären Staat mit einer Einheitspartei und einer Einheitsmeinung ... Das Problem der SPD, der CDU, der FDP, sogar der Linken ist: Es ist eine große Mischmasch-Soße. Alle haben das Wort Demokratie im Mund. Aber die Demokratie ist dem Markt ausgeliefert, Merkels marktkonforme Demokratie wird von allen anderen Parteien mitgetragen, unsere Freiheits- und Wahlmöglichkeiten liegen im Kaufen und Konsumieren.
Der Dichter Rimbaud hat das alles schon vor 150 Jahren in seinem Gedicht „Saldo“auf den Punkt gebracht: „Zu verkaufen ... die unbezahlbaren Körper … die Anarchie für die Massen ... der Tod der Liebenden ...das, was man niemals verkaufen wird.“Alles kann man kaufen. Ist das Demokratie?
Dass Merkel als Exponentin des hoch organisierten Kapitalismus einen menschlichen Zugang zu politischen Themen hat, das ist schon mal ganz gut. Aber ihr fehlt das Polarisierende, wenn ich sie mit Herbert Wehner und Franz Josef Strauß vergleiche. So wie damals wünsche ich mir Auseinandersetzungen im deutschen Bundestag, auf dem intellektuellen Niveau, aber auch auf jenem der klarsten Erkennbarkeit. SN: Kommen wir zu Knut Hamsun. Sie bringen seinen Roman „Hunger“in Hallein auf die Bühne. Was sagt uns Menschen des 21. Jahrhunderts dieses Schicksal eines jungen Dichters, der auf der Suche nach Nahrung und Arbeit durch Oslo streift? Den Mittelschichten der puritanischen Gesellschaften, zu denen wir gehören, geht es verhältnismäßig gut. Sie haben zu essen, sie haben ihren Computer, sie können mit der Welt kommunizieren. Sie haben aber Angst, nicht mehr dazuzugehören, sondern wieder abzustürzen, zu den Leuten, die wirklich Hunger haben, wo man arm ist.
Es geht um Hunger, der physisch gemeint ist, was wir uns ja nicht vorstellen können. Es geht um einen, der kein Obdach hat im Kristiania der 1890er-Jahre, der rumstreift, der viel im Kopf hat und wenig im Magen. Im Armenhaus liegt er, ohne Licht, aber sich immer für etwas Besseres haltend. Hamsun hat nicht nur das physische Problem des Hungers autobiografisch erfahren, sondern auch lebenslanges Außenseitersein. SN: In Ihren Theaterarbeiten verknüpfen Sie das jeweilige Hauptwerk oder Stück auch meist mit zusätzlicher Literatur. Hier ist es der Roman „Mysterien“, den Hamsun gleich im Anschluss an „Hunger“geschrieben hat. Warum? Weil dieser Roman eine Art Weiterschreibung ist. Am Ende von „Hunger“geht der Hungernde auf ein Schiff, nach Leeds oder nach London. Und dann wird er vermutlich zu Reichtum kommen. Und er kommt dann als Außenseiter, als Agent Provocateur in diese kleinbürgerlich-pietistisch-protestantische Gesellschaft.
Wie geht man mit dem Reichtum, mit dem Erfolg, gewissermaßen mit der Befriedigung des Hungers um? Das ist etwas ganz Neues, der Überdruss, wo man diese Gesellschaft nur noch so provozieren will, bis sie ihre Maske verloren hat und die Nerven bloßgelegt sind. SN: Sie nutzen also „Mysterien“zur Kapitalismuskritik. „Mysterien“ist wie ein Bonusmaterial, das man braucht, um die Zeit der glücklichen Geldgesellschaft zu skizzieren. Alle haben gelbe Anzüge an. Alle denken, sie haben es geschafft.
Wissen Sie, ich wohne in BerlinMitte. Und dort denken alle: „Ich bin ungeheuer individualistisch.“Die sehen aber alle gleich aus. Sie tragen die gleichen Klamotten, Bart und Baseball Cap. Das Bewusstsein ist aber: „Ich bin etwas ganz Besonderes.“Das ist die Illusion im Kapitalismus. lehnt SN: In der einer Dichter Szene das aus Angebot „Hunger“einer Dirne zum kostenlosen Sex ab, obwohl sie ihn anzieht. Ist er ein Masochist? Natürlich ist er das auch. Es geht ihm aber auch immer um Verweigerung. Er sagt ja dann später auch zur Frau, die er liebt: „Ich habe Angst vor dem, was Liebe ist.“Er geht also wieder an seine Schmerzgrenze – wie auch beim Hungern. Der Schmerz ist immer noch zu steigern. Darum geht es bei Hamsun. SN: Ein Castorf-Abend fordert Schauspieler wie auch Zuseher. Manchmal überfordert er aber auch. Das haben gute Leute wie Einar Schleef oder Christoph Schlingensief ja alle gemacht, auch früher ein Peter Stein, ein Peter Zadek oder ein Luc Bondy. Es gab da schon echte Olympioniken. SN: Auch Sie sind ja ein Langstreckenläufer. Ja, aber mit der Lust, dazwischen sehr eindrucksvolle Kurzstrecken hinzulegen. Das kann ich nur mit Leuten, die sich in jeder Hinsicht überfordern. Nicht das Langweilige. Immer anders denken. Aussteigen. Die Tendenz eines jeden Apparats zur Bequemlichkeit ist vorbei.
Alles, was in so einer Bewegung ist, macht mir Spaß. Also irgendwie immer auf der Flucht zu sein. Das war auch in der DDR so: nie bleiben, wo man gerade ist, immer weg. Die DDR war ja ein stehendes Gewässer ohne Zuflüsse. Auch die Berliner Volksbühne war ein Fluchtort. SN: Nun haben Sie einige Stützen Ihres legendären Volksbühne-Ensembles wie Sophie Rois, Marc Hosemann oder Kathrin Angerer in Hallein versammelt. Na ja, scheinbar sind manche Schauspieler nicht wirklich glücklich und laufen zu mir über. Man ist so wie ein Feldherr des Dreißigjährigen Krieges, so eine Art Wallenstein, der durch die Kernlande katholischer und protestantischer Natur zieht. Und das macht Spaß.
Ich bin ja auch ein Service-Unternehmen und muss Menschen durch die künstlerische Arbeit glücklich machen. Sie haben nicht das Gefühl, sie kriegen einen Anzug von Woolworth, sondern ich mache mir die Mühe, ihnen einen Maßanzug zu machen. SN: Innerhalb von nur zweieinhalb Monaten haben Sie drei Neuinszenierungen vorgelegt: die Oper „Aus einem Totenhaus“, dann Molières „Don Juan“und nun „Hunger“. Woher nehmen Sie die Kraft? Das kommt aus meiner DDR-Zeit. Wir wussten damals, der Staatsapparat kommt und kann uns eine Arbeit jederzeit verbieten. Diese Fähigkeit, ungeheuer schnell zu sein, hab ich dort gelernt. Der Mensch ist belastbar. Hamsun hat kaum das erste Geld für „Hunger“gehabt, da waren die „Mysterien“schon fertig. Man muss sich einfach überfordern.
Zur Person: Frank Castorf wurde 1951 in Ostberlin geboren. 1984 wurde eine seiner Brecht-Inszenierungen von der SED abgesetzt und Castorf entlassen. Von 1992 bis 2017 leitete er die Berliner Volksbühne, die zuletzt zwei Mal hintereinander zum Theater des Jahres gewählt wurde. Seine bis zu achtstündigen Theaterproduktionen wurden mehrmals zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Bei den Salzburger Festspielen inszenierte Frank Castorf im Jahr 2000 „Endstation Sehnsucht“und 2004 „Kokain“.