„Wir fressen uns dem Ersticken entgegen“
Die Salzburger Festspiele beginnen mit Warnungen: Der Festredner beklagt Verdummung, Verlogenheit und Angst, der Landeshauptmann kritisiert „routinierte Betroffenheitskultur“, der Bundespräsident warnt vor „freiwilliger Verzwergung“.
SALZBURG. Die Europäer verhalten sich so gierig wie die Germ im Dampfl: Sie haben’s gern warm und süß und wollen immer weiterwachsen. Der gebürtige Hamburger Philipp Blom benützte in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele für diesen wachstumsfreudigen Pilz aus Brioche, Germknödel und Zwetschgenfleck das deutsche Wort „Hefe“. Diese würdigte er als „wichtigsten kulturellen Partnerorganismus“, dem wir Brot, Bier und Wein verdankten.
Dieser Pilz vermehre sich explosiv, indem er Zucker fresse, „bis alle Ressourcen aufgebraucht sind und er an seinen eigenen Ausscheidungen erstickt und verhungert, das ist das Ende der Gärung“, erläuterte Philipp Blom. Dem Vergleich des Menschen mit der Hefe ließ er eine Warnung folgen: Auch wenn die Menschen Mozart und Shakespeare hervorgebracht hätten, schienen sie kaum mehr gelernt zu haben als die Germ: Denn: „Wir fressen uns dem eigenen Ersticken entgegen.“
Philipp Blom hatte seine Rede mit einem Lob der kritischen Vernunft begonnen. Aufklärung sei der Versuch, Verstand und Fakten höher zu achten als Vorurteile, Gefühle, Traditionen oder Dogmen. Aufklärung bestehe nicht „aus einem Katalog von Lehrsätzen und dicken Büchern“, sondern „aus einer Landschaft von Debatten, Provokationen, Entwürfen und Experimenten“. Dieses kritische Denken, bei dem man sich selbst und anderes infrage stelle, habe Menschenrechte, Demokratie, Naturwissenschaft, Befreiung der Sklaven, Ende der Kirchenherrschaft und Emanzipation der Frauen ermöglicht.
Doch dieses Bekenntnis zur Aufklärung und zu universellen Menschenrechten wie Freiheit und Gleichheit verkomme zur Phrase. Längst gebe es ein globales ZweiKlassen-Menschenrecht: „Wer im reichen Westen geboren ist, hat einfach mehr Rechte, mehr Freiheiten, mehr Chancen – und das auch auf Kosten anderer.“
Mittlerweile basiere das paradiesische Europa auf Ernten, Rohstoffen und Produkten aus Ländern, wo Billigstlohnarbeiter sklavenartig beschäftigt seien. Philipp Blom warnt: „Dieses Paradies ist, wie alle Paradiese, bedroht.“
Diese Bedrohung kommt dem Festredner zufolge nicht primär von außen, weil etwa viele Flüchtlinge ihren Weg nach Europa suchen. Vielmehr wächst die Gefahr für Demokratie und Freiheit im Inneren: etwa in einer Abwehr von Flüchtlingen, nur um die eigene Bequemlichkeit zu sichern, in Unanständigkeit, in freiwilliger Verdummung, in Verlogenheit und in Angst.
Ziel sei nicht kritisches und somit riskantes Denken, sondern: „Wir wollen behalten, was wir haben, wir bleiben, wie wir sind.“Und gar: „Wir sind Nachkommen von Pionieren, die etwas riskiert haben, um uns ein bequemes Leben mit verbrieften Rechten zu ermöglichen, eine Generation von Erben, die sich heimlich für moralisch überlegen halten, weil ihre Vorfahren einmal mutig waren.“An anderer Stelle seiner Rede formulierte er es so: „Wir wollen keine Zukunft, wir wollen, dass unsere privilegierte Gegenwart nicht aufhört.“
Da viele Menschen den Verlust von Besitz und Status befürchteten, mache sich Angst breit, stellt Philipp Blom fest. Dass diese Angst zu Verengung und Verhärtung führt, schildert er so: Aus Freiheit werde „die Wahl der Menschen zwischen Produkten“, aus Gleichheit werde „statistische Normierung“, aus Bürgerrechten würden Garantien. „In dieser Welt braucht man keinen Pass, sondern eine Kreditkarte.“
Philipp Blom kritisierte die Verlogenheit. Immer mehr Menschen begriffen, dass ihr Wohlstand und ihre Chancen abnähmen. Vielen sei klar, dass wir „nicht noch reicher werden, noch sicherer und noch privilegierter“. Doch Politiker sprächen nur von Wachstum, Innovation, Vollbeschäftigung und Wohlstand.
Die westliche Gesellschaft sei nur bei ständigem Wirtschaftswachstum stabil, warnte der Festredner. Sie sei gezwungen, „unentwegt ihren künstlichen Heißhunger zu befriedigen“– und das auf Kosten anderer. „Viele von diesen anderen haben das begriffen und wollen lieber beim großen Fressen dabei sein als beim großen Verhungern. Auch so entsteht globale Migration.“
Solche Veränderung „in Gestalt von Menschen“, die sich zu Fuß oder in Booten auf den Weg nach Europa machten, sei ein Teil der Zukunft, die auf uns zukomme. Philipp Blom nannte auch „warme Winter und clevere Algorithmen“.
Doch anstatt dass auf diese Bedrohungen mit Kritik und Veränderung reagiert werde, nähmen Angst und Verlogenheit zu. Und in einer derart auf ihrem Reichtum beharrenden Gesellschaft sei auch die Demokratie in Gefahr. Denn diese baue auf eine „Art von Anständigkeit, Selbstkontrolle, Respekt im Umgang mit anderen, Respekt vor Fakten“. Doch so ein von Respekt getragenes Gleichgewicht drohe zusammenzubrechen, wenn die Idee von Menschenrechten und Freiheit einem Streben nach Identität und Sicherheit weiche, wenn Konfrontation wichtiger werde als Diskussion. „Vor dieser Drohkulisse verblasst die rationalistische Aufklärung zum Scherenschnitt mit gepuderter Perücke.“
Philipp Blom leitet daraus die Forderung nach einer „neuen, dringend gebrauchten Aufklärung“ab, nach einem Verhalten, das sich durch Verständnis, Fantasie und Empathie ändere und nach der Selbsterkenntnis, dass Menschen nicht mehr seien „als Primaten, die dazu neigen, sich selbst hoffnungslos zu überschätzen“.
Auch in anderen Reden im Festakt – wieder eine Glanzstunde politischer Rhetorik – wurden Warnungen laut. Salzburgs Landeshauptmann Wilfried Haslauer (ÖVP) sprach von einer „routinierten Betroffenheitskultur“, in die wir „mit dem Glück der Spätgeborenen“etwa beim Gedenken an 1918 oder 1938 verfallen könnten. Nach dem Schwur „Nie wieder!“gehe man zu einem leichten Mittagessen, da hoher Cholesterinspiegel und Kurzatmigkeit im Fitnessstudio uns offenbar mehr Sorge bereiteten als die Grauen des vor 100 Jahren beendeten Ersten Weltkriegs oder der Jubel, mit dem 1938 Adolf Hitler begrüßt worden sei.
„Ändert sich der Mensch? Ändert sich die Menschheit?“, fragte Haslauer und folgerte: Es komme darauf an, was wir aus uns machten und was wir einander wert seien. „Die Metamorphose hat längst begonnen, allerdings ergebnisoffen.“
Bundespräsident Alexander Van der Bellen erinnerte an einen deutschen Journalisten, der nach der Machtergreifung Adolf Hitlers 1933 geschrieben hatte: „Wir hatten eine Demokratie, aber leider nicht genügend Demokraten.“Es sei möglich, dass wir eines Tages aufwachten und uns sagen müssten: „Wir hatten ein vereintes Europa, aber leider nicht genügen Europäerinnen und Europäer“, sagte Van der Bellen.
Weil ein Scheitern möglich sei, müssten wir umso mehr Energie mobilisieren. Denn „wir brauchen dieses vereinte Europa, davon bin ich leidenschaftlich überzeugt“. Auch wenn in Europa wieder viele Parteien den Vorstellungen von alter nationaler Souveränität anhingen, halte er dies „für die politische Illusion schlechthin“, sagte der Bundespräsident und ermahnte: „Hüten wir uns vor freiwilliger Verzwergung.“Denn im Weltmaßstab sei jeder Mitgliedsstaat der EU zu klein, um eine Rolle zu spielen.
Kulturminister Gernot Blümel (ÖVP) widmete seine Rede einem Widerspruch. Europa sei vielfältig und divers. Doch „wir brauchen keine Gleichschaltung Europas“, sagte der Minister. Zugleich mangle es in Europa nicht an Juristischem und Rationalem, sondern an einem Zusammengehörigkeitsgefühl, also an „emotionaler Identität“. Kunst und Kultur seien ideal, um den Gegensatz von Unterschiedlichkeit und Gemeinsamkeit zu überwinden. „Im Wesen von Kunst und Kultur liegt der dialektische Schaffensprozess einer gemeinsamen europäischen Identität.“
Präsidentin Helga Rabl-Stadler nützte ihre Begrüßung zu einem Festspiel mit 206 Aufführungen an 42 Tagen in 18 Spielstätten dazu, Stefan Zweig zu zitieren: „Nein, es wird noch nicht morgen sein, das geeinte Europa, vielleicht werden wir noch Jahre und Jahrzehnte warten müssen (...). Aber eine wahrhafte Überzeugung braucht nicht die Bestätigung durch die Wirklichkeit, um sich richtig und wahr zu wissen.“Solches Denken sei eine „MutInjektion“, sagte Helga Rabl-Stadler und resümierte: „Widersprechen wir jenen, die ihre Redegewalt für europäische Untergangsszenarien gebrauchen. Investieren wir unsere Tatkraft in die faszinierende Idee eines vereinten Europas.“ Alle Reden zur Eröffnung der Salzburger Festspiele im Wortlaut auf www.sn.at/kultur