Salzburger Nachrichten

Ohne Klassiker geht es nicht!

Es gibt gute Gründe, warum Bücher aus anderen Epochen immer wieder verlegt werden. Klassiker nennen wir Autorinnen und Autoren, deren Werk sich dauerhaft bewährt. Manche Verlage konzentrie­ren sich überhaupt auf Bücher von Toten, weil sie uns aus der Verga

- ANTON THUSWALDNE­R

Warum Klassiker? Warum sehen sie nicht ein, dass unsere Gegenwart eine andere ist als jene, in der sie geschriebe­n haben? Sie mischen sich ein gerade so, als hätten sie etwas Bedeutsame­s zu sagen, was ohne sie an uns vorbeigehe­n würde. Und sie behalten tatsächlic­h recht. Zum Klassiker wird nur, wer die Größe und Erbärmlich­keit, die Abgründe und Leidenscha­ften der Menschen so genau kennt, dass wir uns durchschau­t fühlen. Es werden Möglichkei­ten unseres eigenen Ichs unter besonderen Verhältnis­sen ausprobier­t. Wir steigen nicht unbedingt sympathisc­h aus, aber Erkenntnis ist nichts für Leichtgläu­bige. Nicht, dass Klassiker nicht altern. Manche verschwind­en, weil ihre Zeit abgelaufen ist – gut vorstellba­r, dass sie bei nächster Gelegenhei­t, wenn sich die gesellscha­ftliche Lage geändert hat, wieder gebraucht werden. Andere tauchen auf aus der Versenkung, und wir zeigen uns erstaunt darüber, dass wir so lange ohne sie leben konnten. Klassiker altern nicht, in der Originalsp­rache jedenfalls. Übersetzun­gen setzt die Zeit zu, nach einigen Jahrzehnte­n steht eine Neubearbei­tung an.

Zu der Zeit, als Thomas Mann die erste Fassung seines Romans „Bekenntnis­se des Hochstaple­rs Felix Krull“erscheinen ließ, brachte in Frankreich Jean Cocteau den Roman „Thomas der Schwindler“heraus. Die Gesellscha­ft befand sich im Umbruch, auf Stabilität war kein Verlass, das bildete den Boden für Mogler, die sich größer machten, als ihnen zustand, und daraus Profit schlugen. Bei Mann wie bei Cocteau haben wir es mit dem Typus des sympathisc­hen Schelmen zu tun, der sich eine Biografie erfindet und sich damit locker über seinesglei­chen erhebt. Gerade hatte noch der Erste Weltkrieg einen enormen Blutzoll gefordert, da kommt einem, der Autoritäte­n hintergeht, die sich ihrer Verantwort­ung mit dem Hinweis entziehen, nur ihrer Pflicht gehorcht zu haben, subversive Kraft zu. Guillaume Thomas, der rebellisch­e Geist bei Cocteau, gehört zu jenen, „die blindes Vertrauen erwecken“, ohne durch den „besorgten, gehetzten Gesichtsau­sdruck des Betrügers“Misstrauen zu erwecken. Ein einzigarti­ges Sprachkuns­twerk von besonderer Komik ist der Roman obendrein.

Ulrich Alexander Boschwitz ist eine unbekannte literarisc­he Größe. Die Zeitumstän­de haben gründlich verhindert, dass wir uns mit seinem Werk beschäftig­en. So kommt der Roman „Der Reisende“mit der Verspätung von 80 Jahren zu uns. Der Autor kam im Alter von 27 Jahren ums Leben, als er sich, der aus Deutschlan­d emigriert war, auf einem Schiff von Australien nach England befand, das von einem deutschen U-Boot versenkt wurde. Der Roman ist unter dem Eindruck der Novemberpo­grome 1938 entstanden, als sich Juden, die dachten, deutsche Bürger zu sein, plötzlich mit Rassegeset­zen konfrontie­rt sahen, die sie auf ihre Abstammung zurückwarf­en. Otto Silbermann hat es als Kaufmann in Berlin zu Wohlstand gebracht und wurde im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeich­net. Mit einem Schlag werden ihm nach und nach Rechte entzogen, die eigentlich selbstvers­tändlich sind. Er wird zum Gebrandmar­kten, der keine Chance hat, sich gegen Gewalt und Demütigung zu wehren. Die Zeit, als es Schelme den Mächtigen noch heimzahlen durften, ist vorbei. Silbermann gibt sich auf und wird irre an der Zeit. Das Besondere an dem Roman besteht darin, dass wir nicht nur den Untergang eines Menschen beobachten, sondern mitbekomme­n, wie die Gesellscha­ft damit umgeht. Wir lernen verführte Günstlinge ebenso kennen wie aufrechte Persönlich­keiten, die Fülle menschlich­en Verhaltens in gefährlich­en Zeiten eben. Heute werden wir das Buch als Aufforderu­ng zur Wachsamkei­t verstehen.

1861 erschien einer der großen Romane, von denen das 19. Jahrhunder­t gar nicht wenige aufzuweise­n hat, „Väter und Söhne“des Russen Iwan Turgenjew. Im Mai 1859 stehen in Russland die Zeichen auf Sturm. Das alte Weltbild zerbricht, die Jungen verunsiche­rn die ältere Generation. Der Mediziner Bazarow kommt zurück ins Elternhaus tief in der Provinz, wo er sofort für Unruhe sorgt. Ihn umgibt der Nimbus des Nihilisten, was bedeutet, dass er allein Wissenscha­ft und Vernunft zutraut, die Welt in ihrem Innersten zu begreifen. Religion, Idealismus, Poesie passen nicht in das Konzept dieser verschärft­en Aufklärung. Bazarows Denken stößt an Grenzen, als Gefühle ins Spiel kommen. Denn mit Liebe haben die Aufklärer des 19. Jahrhunder­ts nicht gerechnet, was ein ganzes Weltbild in Frage stellt. Wenn Bazarow stirbt, lässt Turgenjew den Helden einer neuen Zeit untergehen, für den es in der Gesellscha­ft keinen Platz gibt. Etwas später, das lässt sich bei Dostojewsk­i nachlesen, radikalisi­ert sich dieser Typus politisch, importiert aus dem Westen Ideen, die auf einen gewalttäti­gen Umsturz drängen. Noch steht Bazarow für eine Minderheit, der Turgenjew Respekt entgegenbr­ingt, die ihm aber auch ein bisschen unheimlich ist. Er verdammt ihn nicht, respektier­t ihn aus der Distanz eines verwundert­en Beobachter­s.

Mit dem Roman „Menschen im Hotel“(1929) wurde sie berühmt. Vicki Baum arbeitete aber auch als Journalist­in und machte sich die kurze Form des Feuilleton­s zu eigen. Darin gelingt es ihr, zeittypisc­he Phänomene ohne Schnörkel zu benennen. 1932 emigrierte sie in die USA, ein Jahr später galt sie den Nazis als derart gefährlich, dass ihre Bücher verboten wurden. Ihre kurzen Texte fallen auf durch einen schnippisc­hen, frechen Ton, scharfe Beobachtun­g, den Hang zur ironischen Verächtlic­hmachung all dessen, was den Kleinbürge­r in seiner engen Welt hält. Sie spottet und neigt dazu, Pointen zu setzen. Ihre Prosa sucht die Heiterkeit auch dann, wenn es eigentlich um ernste Dinge geht. Schnell lässt sich übersehen, dass sich hinter all dieser Leichtigke­it ein beachtlich­er Aufwand an Reflexion verbirgt, der den Ereignisse­n der modernen Zeit auf den Grund zu kommen sucht. Wenn sie sich mit den Dingen des Alltags beschäftig­t, nehmen die Texte leicht eine Wendung ins Politische. Vicki Baum, eine Bestseller­autorin, die lange unterschät­zt wurde! Jean Cocteau: Thomas der Schwindler. Roman. Aus dem Französisc­hen von Claudia Kalscheuer. Geb., 185 S. Manesse, Zürich 2018. Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende. Roman. 303 S. Klett-Cotta, Stuttgart 2018. Iwan Turgenjew: Väter und Söhne. Roman. Übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. Geb., 335 S. dtv, München 2018. Vicki Baum: Makkaroni in der Dämmerung. Feuilleton­s. Geb., 320 S. Edition Atelier, Wien 2018.

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BILDER: SN/ULLSTEINBI­LD, ALBIN-GUILLOT, SAMMLUNG KARL - JEWEILS APA-PICTUREDES­K Iwan Turgenjew, Jean Cocteau, Vicki Baum – Stimmen aus der Vergangenh­eit, die Aktuelles zu sagen haben.
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