Ohne Klassiker geht es nicht!
Es gibt gute Gründe, warum Bücher aus anderen Epochen immer wieder verlegt werden. Klassiker nennen wir Autorinnen und Autoren, deren Werk sich dauerhaft bewährt. Manche Verlage konzentrieren sich überhaupt auf Bücher von Toten, weil sie uns aus der Verga
Warum Klassiker? Warum sehen sie nicht ein, dass unsere Gegenwart eine andere ist als jene, in der sie geschrieben haben? Sie mischen sich ein gerade so, als hätten sie etwas Bedeutsames zu sagen, was ohne sie an uns vorbeigehen würde. Und sie behalten tatsächlich recht. Zum Klassiker wird nur, wer die Größe und Erbärmlichkeit, die Abgründe und Leidenschaften der Menschen so genau kennt, dass wir uns durchschaut fühlen. Es werden Möglichkeiten unseres eigenen Ichs unter besonderen Verhältnissen ausprobiert. Wir steigen nicht unbedingt sympathisch aus, aber Erkenntnis ist nichts für Leichtgläubige. Nicht, dass Klassiker nicht altern. Manche verschwinden, weil ihre Zeit abgelaufen ist – gut vorstellbar, dass sie bei nächster Gelegenheit, wenn sich die gesellschaftliche Lage geändert hat, wieder gebraucht werden. Andere tauchen auf aus der Versenkung, und wir zeigen uns erstaunt darüber, dass wir so lange ohne sie leben konnten. Klassiker altern nicht, in der Originalsprache jedenfalls. Übersetzungen setzt die Zeit zu, nach einigen Jahrzehnten steht eine Neubearbeitung an.
Zu der Zeit, als Thomas Mann die erste Fassung seines Romans „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“erscheinen ließ, brachte in Frankreich Jean Cocteau den Roman „Thomas der Schwindler“heraus. Die Gesellschaft befand sich im Umbruch, auf Stabilität war kein Verlass, das bildete den Boden für Mogler, die sich größer machten, als ihnen zustand, und daraus Profit schlugen. Bei Mann wie bei Cocteau haben wir es mit dem Typus des sympathischen Schelmen zu tun, der sich eine Biografie erfindet und sich damit locker über seinesgleichen erhebt. Gerade hatte noch der Erste Weltkrieg einen enormen Blutzoll gefordert, da kommt einem, der Autoritäten hintergeht, die sich ihrer Verantwortung mit dem Hinweis entziehen, nur ihrer Pflicht gehorcht zu haben, subversive Kraft zu. Guillaume Thomas, der rebellische Geist bei Cocteau, gehört zu jenen, „die blindes Vertrauen erwecken“, ohne durch den „besorgten, gehetzten Gesichtsausdruck des Betrügers“Misstrauen zu erwecken. Ein einzigartiges Sprachkunstwerk von besonderer Komik ist der Roman obendrein.
Ulrich Alexander Boschwitz ist eine unbekannte literarische Größe. Die Zeitumstände haben gründlich verhindert, dass wir uns mit seinem Werk beschäftigen. So kommt der Roman „Der Reisende“mit der Verspätung von 80 Jahren zu uns. Der Autor kam im Alter von 27 Jahren ums Leben, als er sich, der aus Deutschland emigriert war, auf einem Schiff von Australien nach England befand, das von einem deutschen U-Boot versenkt wurde. Der Roman ist unter dem Eindruck der Novemberpogrome 1938 entstanden, als sich Juden, die dachten, deutsche Bürger zu sein, plötzlich mit Rassegesetzen konfrontiert sahen, die sie auf ihre Abstammung zurückwarfen. Otto Silbermann hat es als Kaufmann in Berlin zu Wohlstand gebracht und wurde im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Mit einem Schlag werden ihm nach und nach Rechte entzogen, die eigentlich selbstverständlich sind. Er wird zum Gebrandmarkten, der keine Chance hat, sich gegen Gewalt und Demütigung zu wehren. Die Zeit, als es Schelme den Mächtigen noch heimzahlen durften, ist vorbei. Silbermann gibt sich auf und wird irre an der Zeit. Das Besondere an dem Roman besteht darin, dass wir nicht nur den Untergang eines Menschen beobachten, sondern mitbekommen, wie die Gesellschaft damit umgeht. Wir lernen verführte Günstlinge ebenso kennen wie aufrechte Persönlichkeiten, die Fülle menschlichen Verhaltens in gefährlichen Zeiten eben. Heute werden wir das Buch als Aufforderung zur Wachsamkeit verstehen.
1861 erschien einer der großen Romane, von denen das 19. Jahrhundert gar nicht wenige aufzuweisen hat, „Väter und Söhne“des Russen Iwan Turgenjew. Im Mai 1859 stehen in Russland die Zeichen auf Sturm. Das alte Weltbild zerbricht, die Jungen verunsichern die ältere Generation. Der Mediziner Bazarow kommt zurück ins Elternhaus tief in der Provinz, wo er sofort für Unruhe sorgt. Ihn umgibt der Nimbus des Nihilisten, was bedeutet, dass er allein Wissenschaft und Vernunft zutraut, die Welt in ihrem Innersten zu begreifen. Religion, Idealismus, Poesie passen nicht in das Konzept dieser verschärften Aufklärung. Bazarows Denken stößt an Grenzen, als Gefühle ins Spiel kommen. Denn mit Liebe haben die Aufklärer des 19. Jahrhunderts nicht gerechnet, was ein ganzes Weltbild in Frage stellt. Wenn Bazarow stirbt, lässt Turgenjew den Helden einer neuen Zeit untergehen, für den es in der Gesellschaft keinen Platz gibt. Etwas später, das lässt sich bei Dostojewski nachlesen, radikalisiert sich dieser Typus politisch, importiert aus dem Westen Ideen, die auf einen gewalttätigen Umsturz drängen. Noch steht Bazarow für eine Minderheit, der Turgenjew Respekt entgegenbringt, die ihm aber auch ein bisschen unheimlich ist. Er verdammt ihn nicht, respektiert ihn aus der Distanz eines verwunderten Beobachters.
Mit dem Roman „Menschen im Hotel“(1929) wurde sie berühmt. Vicki Baum arbeitete aber auch als Journalistin und machte sich die kurze Form des Feuilletons zu eigen. Darin gelingt es ihr, zeittypische Phänomene ohne Schnörkel zu benennen. 1932 emigrierte sie in die USA, ein Jahr später galt sie den Nazis als derart gefährlich, dass ihre Bücher verboten wurden. Ihre kurzen Texte fallen auf durch einen schnippischen, frechen Ton, scharfe Beobachtung, den Hang zur ironischen Verächtlichmachung all dessen, was den Kleinbürger in seiner engen Welt hält. Sie spottet und neigt dazu, Pointen zu setzen. Ihre Prosa sucht die Heiterkeit auch dann, wenn es eigentlich um ernste Dinge geht. Schnell lässt sich übersehen, dass sich hinter all dieser Leichtigkeit ein beachtlicher Aufwand an Reflexion verbirgt, der den Ereignissen der modernen Zeit auf den Grund zu kommen sucht. Wenn sie sich mit den Dingen des Alltags beschäftigt, nehmen die Texte leicht eine Wendung ins Politische. Vicki Baum, eine Bestsellerautorin, die lange unterschätzt wurde! Jean Cocteau: Thomas der Schwindler. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Geb., 185 S. Manesse, Zürich 2018. Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende. Roman. 303 S. Klett-Cotta, Stuttgart 2018. Iwan Turgenjew: Väter und Söhne. Roman. Übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. Geb., 335 S. dtv, München 2018. Vicki Baum: Makkaroni in der Dämmerung. Feuilletons. Geb., 320 S. Edition Atelier, Wien 2018.