Woll-Lust der Häkelhelden
Handarbeit sogar im Häfen. Stricken und Häkeln werden immer beliebter. Das lässt eine totgeglaubte Branche florieren.
Ein warmer, sonniger Vormittag im Wollkistel nahe der S-Bahn-Station Gnigl. Die Kundinnen geben sich die Klinke in die Hand, man schaut, befühlt Wollknäuel und fragt um Rat. Vieles ist da im Entstehen: Ein bunt-gelber Pullover für die Tochter, ein Sommerschal, eine Babyjacke. Seit 2006 betreibt Andrea Steinbacher das Wollkistel in der Fürbergstraße, vor zwei Jahren kam eine Filiale in der Schrannengasse dazu – die Besitzerin war verstorben. Seitdem ist Steinbacher für vier Mitarbeiterinnen verantwortlich. Ob sie online verkauft? Steinbacher zögert einen Moment: Sie bietet zwar Wolle der Marke OnLine an, verkauft aber nicht über das Internet. „Wolle muss man angreifen können“– in der Tat, vor allem die besonderen Wollsorten, die sie anbietet. Zahlen der deutschen Initiative Handarbeit geben Steinbacher recht. Der Internethandel nimmt zwar zu, die Bedeutung des Fachhandels aber genauso. Weil die Kundinnen und Kunden einfach auf persönliche Beratung Wert legen. Früher die Oma. Heute YouTube In puncto Inspiration und „Zeigen, wie’s geht“ist jedoch das Netz für die Wollwelt unverzichtbar geworden. Es gebe wieder mehr junge Interessierte, lautet der Tenor auf der größten Handarbeitsmesse der Welt, der h+h (Handarbeit und Hobby) in Köln. Das Wachstum der Messe verdeutlicht den Boom: Kamen 2011 noch 230 Aussteller, waren es heuer 423 aus 45 Ländern.
Motor für den Trend waren neue Spielarten des Handwerks, die in den Nuller-Jahren aus den USA nach Europa drangen. Die Künstlerin Magda Sayeg aus Texas gilt als die Erfinderin der „Strickgraffiti“, die gelernte Soziologin Betsy Greer prägte den Begriff Craftivism (handarbeitlicher Aktivismus) und schrieb sogar ein Buch darüber. Die Australierin Rayna Fahey stickte Protestbotschaften auf Maschendrahtzäune.
Nach der Wahl Donald Trumps schaffte es gar eine Mütze auf das Cover des renommierten „Time Magazine“: „The Resistance Rises“hieß es da, zu sehen war der rosa Strickhut, das Accessoire der Frauenproteste am Tag nach dem Amtsantritt des Präsidenten. Stricken und Häkeln, vormals meist mit kratzigen Pullovern oder gehäkelten Klorollenhüllen assoziiert, wurden gründlich entstaubt.
Das war auch dringend notwendig. Thomas Selter, Geschäftsführer von Addi, die seit 1829 Strick-, Häkelnadeln und einiges mehr in der Kleinstadt Altena nordwestlich von Köln herstellen, kann sich gut daran erinnern, wie 1987 der Markt eingebrochen ist. Noch in den 70er-Jahren war viel und bunt gestrickt worden, Anfang der 80er strickten Abgeordnete Socken in Parlamenten. Und Mädchen in der Schule dicke Pullover und Krawatten für den ersten Freund.
14 Nadelhersteller gab es da noch in Europa, heute ist nur noch Addi aktiv, ansonsten wird in Indien, China und Mexiko produziert. Ende der 90er-Jahre ging es dann wieder langsam bergauf. Auch Thomas Selter verortet den Ursprung davon in den USA. Bis dato existierende Initiativen wie „Warm Up America“machten das Handarbeiten wieder populär in Schulen, Kirchengemeinden und Altenheimen; Stricken und Häkeln wurden wieder sichtbarer.
Wirtschaftlich greifbar wurde diese Entwicklung Anfang des Jahrzehnts. Von 2011 auf 2012 stieg der Jahresumsatz im Handarbeitssektor rasant, etwa in Deutschland, Österreich und der Schweiz von 1054 auf 1198 Mill. Euro, ein Jahr später sogar auf 1353, als Häkelmützen richtig „hip“wurden. Immer mehr Begeisterte produzieren seither nicht mehr im stillen Kämmerlein, unzählige Blogs sind entstanden. Seit 2007 vernetzt die Facebook-ähnliche Seite ravelry.com die Wollwelt, und auf YouTube wird auch das schwierigste Zopfmuster gut erklärt. Von den Socken Nicht wenige Blogger machen ihre Leidenschaft zum Beruf, die Zusammenarbeit mit der Handarbeitsindustrie wird immer enger. Durch eine solche Kooperation entstand im vergangenen Herbst der aktuelle Renner: Die „CrasyTrio“-Sockennadeln von Addi. Kein fünfteiliges Nadelspiel mehr, von dem die Maschen so gerne abrutschen und das viele potenzielle Stricker für immer entmutigt hat. Sondern drei biegsame Nadeln. Entwickelt hat sie Sylvie Rasch, erfolgreiche Bloggerin und Designerin. Die Nachfrage ist so groß, dass sich Addi von 100 auf 120 Mitarbeiter vergrößert hat, die Nadeln werden weltweit nachgefragt, nach der Messe ist das Auftragsbuch noch voller.
„Erst jetzt traue ich mich, Socken zu stricken“, erzählt eine junge Wollladenkundin. Eine ältere Dame bestätigt das, auch sie ist auf die neuen Nadeln umgestiegen. Sie sollte es wissen, rund 30 Paar Socken strickt sie im Jahr, ihre Neffen warten sehnsüchtig darauf. Man kann sie so leicht vorm Fernseher stricken, dass Lutz, Betreiber des Blogs „maleknitting“(wörtlich: männliches Stricken), kurzerhand die Facebook-Gruppe „Tatortsocken“gegründet hat. Wolle aus dem Lungau Sockenboom und Trend zum Regionalen nützen auch Salzburger Wollproduzenten wie FernerWolle, einem 1906 gegründeten Tamsweger Familienbetrieb. „Wir haben drei Mal so viel Sockenwolle verkauft wie im Vorjahr“, sagt Marlene Gappmayr. Schon vorher wirkte sich der Trend zum Selbermachen positiv aus: Der Betrieb wurde in den vergangenen zehn Jahren erneuert, 2009 eine neue Produktionshalle, 2014 eine Lagerhalle gebaut. Denn das Sortiment im Handstrickbereich hatte sich vervierfacht, wobei man weiterhin wie früher auch Maschinenstrickund Webgarne herstellt. Häkelhelden hinter Gittern Die Polizisten und Hubschrauberpiloten Tim Pittelkow und Carsten Krämer haben mit Socken nichts am Hut. Einige Jahre ist es her, als Tim eine ganz bestimmte neue Mütze wollte, die es nicht zu kaufen gab. Er erinnerte sich daran, dass ihm seine Oma das Häkeln beigebracht hatte. Der Ehrgeiz war geweckt, es blieb nicht bei einer einzigen Mütze und bald war sein Kollege Carsten angesteckt.
Als Familie und Freunde weitgehend versorgt waren, wurde nach neuen Betätigungsfeldern gesucht – die „Häkelhelden“waren geboren. Seit 2014 häkeln Insassen der Justizvollzugsanstalt Düsseldorf im Rahmen einer Arbeitstherapie schicke Mützen, der Erlös geht an den Weißen Ring.
Carsten und Tim sind Fußballfans. Noch vor der Weltmeisterschaft in Russland wollten sie ein Miniatur-Stadion mit 10.000 „Amigurumis“füllen – das ist japanisch und heißt: Häkel- bzw. Strickfiguren. Nach dem WM-Einsatz gehen die Amigurumis an soziale Einrichtungen und Krankenhäuser. Bis Ende Mai konnte man seine Wollreste dafür aufbrauchen und an die Häkelhelden schicken. Woll-Lust Auch in Itzling hängt man an der Nadel, wie ein Besuch im „Wool and Coffee“nahe der Volksschule noch vor den Ferien zeigt. Eine junge Lehrerin häkelt an einem sommerlichen Oberteil. Inhaberin Sabine Horvath hat sich mit dem Laden (nach dem Großziehen von vier Kindern) ihren Traum verwirklicht. Stricktreffen ergeben sich spontan, der Gesprächsfaden entspinnt sich von allein. Eine Armverletzung zwang Horvath vorübergehend dazu, nur zu häkeln. Wäre es da nicht besser, die Nadeln ruhen zu lassen? „Nein“, meint sie, „ganz ohne Nadel geht nicht.“
Carsten war der Einzige, der von mir keine Mütze gemacht haben wollte. „Häkelheld“Tim Pittelkow über seinen Kompagnon